Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Silvia Thurner · 31. Mai 2017 · Musik

Den Spielraum kreativ und mit bewundernswertem Selbstbewusstsein ausgefüllt – die Tanzperformance „Sketches“ faszinierte und hinterließ eindrückliche Spuren

Dem Symphonieorchester Vorarlberg ist es ein Anliegen, Projekte mit jungen Menschen zu realisieren und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Dies ist in Kooperation mit dem walktanztheater.com rund um Brigitte Walk und mit der Aufführung des Tanztheaters „Sketches“ von Alfred Schnittke hervorragend gelungen. Neununddreißig Jugendliche haben sich monatelang vorbereitet und bei der Premiere im Bregenzer Festspielhaus Großartiges geboten. Das Faszinierende an dieser Aufführung war, dass es in jedem einzelnen Abschnitt sowohl musikalisch als auch tänzerisch viel zu deuten gab. Aber ebenso viel war zu erleben und erfahren, wenn man nichts vom literarisch-musikalischen Hintergrund wusste. Und dies vor allem deshalb, weil die jugendlichen Tänzerinnen und Tänzer höchst beeindruckend und authentisch agierten, die Musik originell modelliert erklang und die Choreografie abwechslungsreich angelegt war.

Seit Monaten treffen sich Schüler, Lehrlinge und Flüchtlinge aus verschiedenen Institutionen und Betrieben aus Vorarlberg und dem Umkreis von Lindau (Junges Ensemble Anne Thaeter, BG Bludenz, BG Dornbirn, Bodensee-Gymnasium Lindau, Firma Collini, HAK Lustenau, ifs Haus Lustenau, PTS Dornbirn, PTS Feldkirch und dem Tanzhaus Lindau) zu gemeinsamen Proben. In einem langen und intensiven Entwicklungsprozess haben die Jugendlichen die in vierzehn Bildern konzipierte Komposition „Sketches“ von Alfred Schnittke mit den künstlerischen Leiterinnen Brigitte Walk und Anne Thaeter für sich erfahrbar gemacht, tänzerisch interpretiert, kreiert, geprobt und einstudiert.

Geistreiche Deutungen der literarischen Vorlagen

Die farbenreiche Musik Alfred Schnittkes ist surreal und bilderreich angelegt und bezieht sich auf literarische Werke des ukrainischen Schriftstellers Nikolaj Gogol. Auf der großen Bühne des Bregenzer Festspielhauses setzte die Tanztruppe das Stück mit vielseitigen tänzerischen Ausdrucksformen um und deuteten sie mit einem gut durchdachten und energiegeladenen Bewegungsfluss. Unter anderem wurden dabei auch Anklänge an die literarischen Vorlagen aus den Romanen und Novellen von Nikolaj Gogol hergestellt.

Besonders in Erinnerung blieben unter anderem die Reminiszenzen an Kinderspiele in „Tschitschikows Kindheit“ aus Gogols Roman „Tote Seelen“ oder auch die Passage „Die Nase“. Beeindruckend wirkte die Rezitation in russischer Sprache mit Bezug auf „Ferdinand VIII.“ sowie die tänzerischen Bewegungsfolgen in den dichten Abschnitten, die sich auf Gogols „Njewsky Prospekt“ bezogen – um nur ein paar zu nennen.

Selbstbewusste und kreative Ausstrahlung

Die Vielfalt und Selbstsicherheit des persönlichen Ausdrucks von allen beteiligten Jugendlichen beeindruckte am meisten. Jede und jeder fand den richtigen Platz innerhalb der Gruppe. In wechselnden Rollen führten und „trugen“ die Mitglieder einander. Auf diese Weise entwickelte sich ein großartiges Tanztheater mit facettenreichen darstellenden Formationen. Geistreich griff die Choreografie überdies markante Elemente der rhythmusbetonten Musik auf, so dass die Tänzerinnen und Tänzer den musikalischen Duktus unterstrichen und im Raum weiterdachten.

Die Charaktereigenschaften der einzelnen Abschnitte unterstrichen die Tänzerinnen und Tänzer mit einer ausgeklügelten Körpersprache. Dabei formte sich ein Bogen zwischen den beiden Polen der unbeschwerten Passage in „Tschitschikows Kindheit“ auf der einen Seite und dem düster wirkenden „Ukrainischen Volkslied“ auf der anderen Seite. Besonders in diesem Abschnitt wurden auch aktuelle Bezüge zur gegenwärtigen politisch bedrückenden Lage in der Ukraine und in Russland deutlich. Von dort stammten Gogol und Schnittke. Bevor der Emigration nach Deutschland hatte Alfred Schnittke sehr unter den Repressalien des Sowjetregimes zu leiden.

Farbenreich im Dienst der Gesamtwirkung

Martin Kerschbaum und das Symphonieorchester Vorarlberg entfalteten die energiegeladene Kraft, die Alfred Schnittkes Musik innewohnt. Einesteils begeisterte die vielfältige Instrumentierung, andernteils lenkten die vieldeutigen Zitate und Allusionen in Schnittkes „Sketches“ die Aufmerksamkeit auf sich. Bewundernswert gelang die Koordination zwischen der Tanzgruppe und dem riesig besetzten Orchester. Trotz der reichhaltig instrumentierten und ereignisreichen musikalischen Verläufe stellte sich das Orchester sympathisch in den Dienst der Tanzperformance und überhöhten damit die Gesamtwirkung.

Bereichernde Videokunst

Über dem Orchester lief eine Projektion des Videokünstlers Matthias Kulow. Die grafischen Qualitäten, die Form- und Farbgebungen der weitgehend abstrakten Bilder bereicherten die vielgestaltige Aufführung wesentlich. Einen starken Kontrast ergab dabei genau jene Passage, in der die Performance auf die gesellschaftlich und politisch problematische Gegenwart hindeutete. Hier wurde ein Auge in Ultranahaufnahme gezeigt, das bedrohlich über den Bühnenraum hinweg bis hin zu jedem einzelnen Betrachter reichte.

Ein Marktstein

Die Aufführung der „Sketches“ bedeutet für das Symphonieorchester Vorarlberg einen Markstein in seinem Bemühen, auch Jugendliche anzusprechen. Brigitte Walk (Regie) und Anne Thaeter (Choreografie) wirkten in künstlerischer und pädagogischer Hinsicht bewundernswert zusammen. Die außergewöhnliche Kreativität, der musikalisch-theatralisch-tänzerische Zugang, die monatelange Arbeit mit Jugendlichen aus jeweils unterschiedlich sozialem Umfeld und Kulturkreis und die originelle Musik wurden zu einem sinnstiftenden Ganzen zusammengefügt, das auf helle Begeisterung stieß und noch lange nachwirken wird.