Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Fritz Jurmann · 20. Jul 2018 · Musik

Auch im zweiten Jahr: Die Festspiel-„Carmen“ am See ist nicht umzubringen

Carmen als Figur wird in Bregenz am Schluss von ihrem enttäuschten Liebhaber ertränkt – eine der ungewöhnlichsten Todesarten, die man je auf einer Opernbühne erlebt hat. „Carmen“ als Stück dagegen ist nicht umzubringen. Bizets genialer Opernwurf in der Erfolgs-Inszenierung des dänischen Regisseurs Kasper Holten wurde bei der Premiere der Reprise am Donnerstag zum erwarteten, minutenlang umjubelten Open-Air-Event vor ausverkaufter Tribüne. Die Natur schuf dazu an diesem lauen, fast windstillen Sommerabend geradezu ideale äußere Bedingungen.

Das Stück hat auch im zweiten Jahr nichts von seiner Strahlkraft und Standfestigkeit, seiner psychologisch geschickten Ausdeutung und auch von seinem Charme eingebüßt. Dafür steht nicht nur die Bilanz von derzeit 95 Prozent verkaufter Eintrittskarten für die 29 Vorstellungen bis 20. August, sondern auch ein international ausgewähltes, vielköpfiges Ensemble aus Solisten, Statisten, Tänzern, Chören und Orchester, das mit ungeheurem Einsatz für die Sache „Carmen“ kämpft und gleich am ersten Abend eine szenische und musikalische perfekte Version im Bilderbuchformat auf die Seebühne wuchtet. Dies bestätigt erneut die Philosophie der Festspiele, dass eine so spektakuläre und massenwirksame Opern-Show wie diese auch höchsten Ansprüchen im eigentlichen Opernbereich genügen kann. Es ist so etwas wie die Quadratur des Kreises.

Was hat sich im zweiten Jahr geändert?

Die große Frage jeweils im zweiten Jahr einer Seeproduktion, ob sich denn gegenüber dem ersten etwas geändert habe, war auch diesmal das große Gewisper unter alten Seehasen und Connaisseurs der Festspiele. Es waren dann aber bloß Marginalien zu bemerken, in der Regie etwa mit zusätzlichen Video-Projektionen oder einer noch gesteigerten Farbenfreude in den Kostümen des Chores. Es gab allerdings auch kleine Differenzen im Zusammenspiel von Solisten und Orchester, die nicht der weiten Distanz von der Seebühne ins Festspielhaus geschuldet sind, sondern dem neuen Dirigenten Antonino Fogliani, mit dem sich die musikalisch-technische „Fernbeziehung“ über Monitore und Lautsprecher erst noch wirklich einspielen muss. Dass der neue Maestro auch manche Tempi anders nimmt, in diesem Fall eher an der oberen Grenze, ist Auslegungs- und Geschmackssache und gibt einer Aufführung erst den nötigen musikalischen Esprit.

Alles Übrige ist „Same procedure as last year“, wie es zu Silvester immer so schön heißt. Warum zum Teufel hätte man auch eine so erfolgreiche Produktion noch irgendwie ändern oder anpassen sollen, wenn eh schon alles bis auf Punkt und Komma stimmt und das Publikum damit im Vorjahr ebenso einverstanden war wie die Fachkritik. Es ist ganz einfach so etwas wie ein modernes Gesamtkunstwerk, dieses Paket aus Musik, Licht, Farben und Stimmungen inmitten der freien Natur, das uns da mit modernsten technischen Mitteln diese spannende, sinnlich aufgeladene Dreiecksgeschichte um Liebe, Eifersucht, Hass und schließlich Mord vorgaukelt und von dem man sich gerne gefangen nehmen lässt.

Carmens Schicksalsmoment als Bühnenskulptur

Man ist auch diesmal sofort mittendrin im Geschehen vor dieser Bühnenskulptur, in der die Britin Es Devlin den Schicksalsmoment Carmens mit den verworfenen Karten wie in einem „gefrorenen Bild“ in der Art des Regisseurs Bob Wilson eingefangen hat. Die anfangs starren grauen Karten entwickeln auch diesmal, sobald die Dämmerung einbricht, in raffinierten Kipp-Effekten ein kommentierendes Eigenleben, bei dem etwa die Herz-Dame für Carmen steht und der Treff-Bube für Don José. Und natürlich erscheint der Tod als blutrot ausgeleuchtetes Gerippe, wenn Carmen diese Karte zieht. Aber auch mit Videoproduktionen wird das reale Bühnengeschehen für den Zuseher in Nahaufnahmen spannend verdeutlicht.

Das funktioniert alles ohne Durchhänger in knapp zwei Stunden, die wie im Nu verfliegen, durchgestylt mit blitzschnellen Verwandlungen, Bildkompositionen von großer Ästhetik, mit fantastischen Kostümen (Anja Vang Kragh), ganz schön erotischen, kämpferischen oder lustigen Tanzeinlagen (Signe Fabricius) wie dem „Wasserballett“ auf der Vorbühne und vielen subtilen Lichtstimmungen (Bruno Poet), die farblich schönste im Zwischenspiel vom zweiten auf den dritten Akt. Bei Escamillos Stierkampf muss sogar wieder das Feuerwerk herhalten, eines der ältesten Showelemente am See. Jedenfalls: Man kommt auch bei diesem Da Capo aus dem Staunen kaum heraus.

Zwischen Lyrik und Dramatik

Bizets Musik im reizvollen andalusischen Kolorit wird von den Wiener Symphonikern mit viel Feingefühl zwischen der Lyrik und Dramatik des Werkes nachempfunden, mit Hingabe und Raffinesse. Und man hat dabei niemals den Eindruck bloßer steriler  Orchesterroutine. Es ist auch diesmal die gewohnte Opern-Hitparade, bei der man mindestens die Hälfte der Melodien am liebsten gerne mitgesungen oder zumindest mitgesummt hätte. Aber dafür gibt es eine professionelle Besetzung auf der Bühne, die in einer zwar lauten, aber stimmigen tontechnischen Abmischung für zwei Stunden Lautsprecher-Wohlklang sorgt.

Die Titelrolle unter den drei vorhandenen Protagonistinnen ist auch heuer in der Premiere der herausragenden Französin Gaëlle Arquez anvertraut. Zu Recht. Denn sie spielt diese Rolle der freiheitsliebenden Femme fatal nicht, sie ist Carmen, lasziv, ein männermordendes Naturereignis im knallroten Kleid. Dazu verfügt sie über einen dunkel timbrierten Traum-Mezzo mit gurrend sinnlicher Ausstrahlung, der nicht nur Männer reihenweise umhaut. Ihr Liebhaber, der dünnhäutige Don José mit dem ebenfalls vom Vorjahr bekannten Wiener Daniel Johansson, besitzt in seinem Tenor  Metall und schöne Spitzentöne, die auch seine „Blumenarie“ veredeln. Wohltuend zurückhaltender als sein Kollege Scott Hendricks vor einem Jahr, dafür mit schön geführtem Bassbariton agiert diesmal als Konkurrent um Carmens Gunst der prominente, aus Litauen stammende Kostas Smoriginas als Stierkämpfer Escamillo.

Keinerlei Höhenprobleme

Die rumänische Sopranistin Cristina Pasarolu, ebenfalls neu bei dieser Premiere, ist als Micaela bewusst nicht zu jugendlich mädchenhaft besetzt, dafür mit einer edel geführten Traumstimme ausgestattet, die sie in ihrer berühmten Arie in 20 Metern Höhe in der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Bühnenhand imponierend einsetzt. Da gibt es sowohl stimmlich wie bergsteigerisch, beim nachfolgenden riskanten Abseilen, keinerlei Höhenprobleme. Im Schlussapplaus erhält diese Micaela vom Publikum ein stärkeres Votum als Carmen, wie man das zuletzt auch bei der „Carmen“-Produktion am Landestheater beobachten konnte.

Den jungen Salzburger Bariton Rafael Fingerlos, der hier als Morales agiert, hat man heuer im April bereits mit Schuberts „Müllerin“ bei der Schubertiade Hohenems erlebt. Dazu mischen sich auch die Stimmen der gut geschulten Chorleute, die über Mikros im Haus (Prager Philharmonischer Chor) und unverstärkt auf der Seebühne (Bregenzer Festspielchor, Kinderchor der Musikhauptschule Bregenz-Stadt) singen, einstudiert von Lukas Vasilek, Benjamin Lack und Wolfgang Schwendinger.

Die Art von Carmens Tod, im Vorjahr noch bis zur Premiere als großes Geheimnis gehandelt, ist inzwischen zur viel bestaunten Bregenzer Attraktion geworden. Deshalb wird das Premierenpublikum diesmal auch nicht unruhig, wenn Gaëlle Arquez am Schluss minutenlang mit dem Kopf unter Wasser gedrückt wird.

Dauer ca. zwei Stunden ohne Pause
Termine der weiteren 28 „Carmen“-Vorstellungen unter www.bregenzerfestspiele.com