Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Ingrid Bertel · 10. Apr 2017 · Literatur

„Wo der Mut nicht ist, da kann ich nichts ausrichten“ - Ein Bildband versammelt erstmals die rund 140 Werke, die der Maler Ferdinand Gehr (1896 – 1996) im öffentlichen Auftrag schuf

Es gibt ein zeitgenössisches Fresko, das vermutlich jeder Mensch in diesem Land lange und intensiv betrachtet hat: Es ist das Altarfresko der Propstei St. Gerold im Großen Walsertal, das Ferdinand Gehr 1966 schuf. Die ersten Gottesdienst-BesucherInnen hat es ziemlich verwirrt, brach es doch mit allen Konventionen der Sakralkunst.

Unter einem spitzen Zeltdach ist zu lesen „Im Anfang war das Wort“. Worte aus dem Johannesevangelium ziehen sich über die ganze Wand, umfangen eine mütterliche Gestalt samt Embryo, kreisen um einen Jesus, der an ein Piktogramm erinnerte, enden über einem Abendmahlstisch, dessen Gedecke die reinen Symbole von Brot und Wein aufweisen. Eine rote Blüte entfaltet daneben ihre Pracht.

Gehr macht radikal Schluss mit dem Dekor. Ja, er macht sogar Schluss mit der Anbetung göttlicher Machtentfaltung. Das war und ist irritierend, aber das Bild hat sich nicht erschöpft und seine Kraft nicht verloren.

Neue Formensprache in der Sakralkunst

Die Faszination des Religiösen wird in diesem Fresko unmittelbar anschaulich. Der religiöse Mensch lebt in einer gleichsam heilen Welt, die „im Frieden Seiner Hände“ ruht. Er ist ein endliches, fehlbares Geschöpf. Darin liegt keine Tragik, er ist ja aufgehoben im göttlichen Kosmos, in einer von Gott geschaffenen Harmonie. Seine künstlerische Aufgabe kann er darin sehen, einen Abglanz dieser Harmonie wiederzugeben. Und das tut Ferdinand Gehr.

Er stellt sich damit gegen eine seit dem Barock dominierende Sakralkunst, die in erster Linie dogmatische Positionen und kirchliche Hierarchie betont. Gehrs Bruch mit dieser Tradition wurde von Anfang an wahrgenommen, aber durchaus nicht begrüßt. In einem Briefentwurf an den Architekten Fritz Metzger schreibt der Maler 1955: „Nun, ich gebe es auf, wo der Mut nicht ist, da kann ich nichts ausrichten. Ich weiß das aus vielen Erfahrungen. Als Preis dieser Enttäuschungen erkenne ich die reale Lage, in der ich mich befinde und die mir niemand mehr beschönigen muss: Dass ich für unsere Schweizer Katholiken unmöglich bin und bei weiterer Entwicklung immer unmöglicher werde.“

Zu diesem Zeitpunkt war Gehr fast 60, hatte über hundert Werke im öffentlichen Raum realisiert, viele in der unmittelbaren Umgebung seiner Heimat St. Gallen, vom Stirnwandfresko, den Glasfenstern, der Decken- und Wandgestaltung in der Wiboradakapelle der Kirche Herz-Jesu in St. Gallen 1931 bis zur (heute zerstörten) Malerei in der Chorapsis der Kirche St. Antonius in Wettingen/ Aargau (1954). Hier hatte er eine der angesprochenen großen Enttäuschungen erlebt: die völlige Ablehnung seines Werks durch die Kirchengemeinde. Die Kritik gipfelte in der Weigerung des Bischofs Franziskus von Streng, die Kirche einzuweihen, sollte das Kunstwerk nicht verdeckt werden. Schließlich wurde die Arbeit mit einem Vorhang verhüllt. Der Bilderstreit wiederholte sich sechs Jahre später bei der Kirche Bruderklaus in Oberwil bei Zug: Per Abstimmung forderte die Kirchengemeinde ein Ende von Gehrs Arbeit, die Entfernung der Bilder und die Annullierung des Vertrags mit dem Künstler. Auch andernorts wurde Gehrs Malerei als zu kindlich abgelehnt. Das könne auch ein Erstklässler, der primitive Ausdruck der Figuren sei einer Kirchenmalerei unwürdig.

Dabei ist Gehrs Malerei keineswegs kindlich im Sinne einer naiven Ausdrucksweise. Ganz im Gegenteil. Gerade in ihrer Reduktion, im Verzicht auf die übliche Virtuosität erweist sich die Hingabe an in die Thematik.

Die Lehrmeister


Der 1896 als Sohn eines Handstickers geborene Ferdinand Gehr war früh fasziniert von sakraler Kunst. Schon als Schüler der Gewerbeschule für textiles Zeichnen in St. Gallen verbrachte er seine Freizeit damit, mit dem Rad in der Region herumzufahren und – so notiert er im Tagebuch – „überall in den Kirchen nach neueren Malereien“ zu forschen. 1922 reiste er nach Italien, erlernte die Freskotechnik und war beeindruckt von Giotto, Fra Angelico, Cimabue, Masaccio. Er sei, schrieb er „ganz und gar für die Primitiven eingenommen“. Dass er nicht, wie alle Welt, seine Meister in Michelangelo oder Raffael sah, das ist an einem 25-Jährigen schon erstaunlich.

Die Jahre 1923 und 1924 verbrachte Gehr in Paris, wo er in André Lhote, einem Vertreter des synthetischen Kubismus, einen idealen Lehrer fand. Er setzte sich mit Cézanne, Matisse, Picasso und Braque auseinander. „Am meisten aber“, so Dorothee Messmer, „verdankt er Jean Arp… 1951 treffen sich die beiden Künstler bei einem Besuch in Altstätten.“ Und Messmer zitiert Gehrs ebenso bescheidene wie selbstbewusste Reaktion auf dieses Treffen: „Er ist eigentlich immer neben mir gewesen. Er hat mir geholfen, dass ich zu meinem eigenen Stil kam.“

In den Raum gebaute Malerei


Anders als die Kirchengemeinden erkannten die Architekten „Gehrs Fähigkeit, sich in jede Aufgabe hineinzudenken und einen Vorschlag zu machen, der den gesamten Raum im Blick behält…“ Das, so Roland Züger, „hat ihn fast zu einem der ihren gemacht.“

Deutlich wird das etwa in der Adamskapelle in der Propstei St. Gerold. Gehr bemalt die Oberflächen des gesamten Innenraums mit Motiven aus der Apokalypse, selbst die Fensterwände und Türrahmen. In die Gewölbespitze malt der den Faltenwurf eines Zelts, denn das Zelt – so Züger – „ist ein Sinnbild des Vorläufigen und Hinweis auf das Temporäre des irdischen Seins.“

Wie fröhlich aber ist dieses irdische Sein selbst bei einer so düsteren Thematik wie der Apokalypse! „Welcher andere Maler hätte es wohl gewagt, die vier apokalyptischen Reiter, jene bei Dürer riesigen und beängstigenden Vorboten des Jüngsten Gerichts, als kleine farbige Figuren über die Kapellenwand hoppeln zu lassen, wobei einer der vier sich auch noch auf eine andere Seite verirrt?“, fragt Dorothee Mesmer und zitiert eine schalkhafte Bemerkung des Künstlers: Er halte es eben mit Frau Angelico, der es abgelehnt habe, die Verdammnis zu malen.

Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt aktuell die Schau „Arp Gehr Matisse“ (siehe Kultur vom März 2017). Ein Besuch dieser Ausstellung ließe sich prima verbinden mit einer Erkundung von Gehrs Arbeiten in den Kirchen und Schulen der näheren Umgebung – etwa den Kirche Herz-Jesu oder St. Martin in St. Gallen, dem Liechtensteinischen Gymnasium in Vaduz oder dem Primarschulhaus Schöntal in Altstätten. Natürlich mit dem Band „Ferdinand Gehr. Die öffentlichen Aufträge“ unterm Arm. Darin finden sich – nebst hervorragender Fotodokumentation – die erhellenden Essays von Dorothee Messmer, Roland Züger und Laetitia Zenklusen.

Der Band „Ferdinand Gehr. Die öffentlichen Aufträge“ wurde vom Kunstmuseum Olten herausgegeben und ist im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen.

 

Arp Gehr Matisse
Di – So 10 – 17, Mi 10 – 20
Kunstmuseum St. Gallen
www.kunstmuseumsg.ch