Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Ingrid Bertel · 21. Feb 2016 · Literatur

Walser Wirtschaftsflüchtlinge - Therese Bichsels Roman „Die Walserin“

In ihrem Roman „Die Walserin“ berichtet Therese Bichsel vom bangen Aufbruch der Walser ins Unbekannte. Immer wieder. Sie begleitet eine Gruppe von Wirtschaftsflüchtlingen durch die Jahrhunderte.

Touristiker nennen es „das magische Tal“, denn heute gehört das landschaftlich reizvolle Lötschental zu den beliebtesten Skisport- und Wander-Destinationen der Südschweiz. Und erst das Lauterbrunnental mit seinen 72 Wasserfällen – ein Weltkulturerbe, das Goethe zum „Gesang der Geister über den Wassern“ inspirierte, J.R.R. Tolkien zum Bruchtal in seinem Roman „Der Herr der Ringe“ und James Bond immerhin zu einer Verfolgungsjagd auf Skiern. Seit es zum Mekka der Basejumper avancierte, hat es den Beinahmen Death Valley bekommen. Vorwiegend düster ist es auch für die kleine Gruppe von Walsern, die sich im Jahr 1300, aus dem Lötschental kommend, hier ansiedelt. „Sie waren Teil der großen Wanderbewegung der Walser, vom Wallis in die Alpentäler südlich des Monte Rosa, ins Graubünden und Tessin, in den Vorarlberg und ins Berner Oberland.“

Die sechzehnjährige Barbara und ihr Mann Conrad sind Teil dieser Gruppe. Barbra fällt auf mit ihrer blauen Schürze; Farben gibt es sonst nicht in der Kleidung der Walser. Barbara fällt auch auf mit ihrer Kraft. Den Sohn Johan zieht sie ganz alleine groß, nachdem Conrad tödlich verunglückt. Beim Versuch, die Wetterlücke erneut zu übersteigen, stürzt er in eine Gletscherspalte.

Banger Aufbruch


„Dunkle Kinder kamen an Bord, in Körben boten sie orange Früchte an, die wir noch nie gesehen hatten …“ Orange ist die zweite auffallende Farbe in diesem Roman. Elisabeth ist die erste aus dieser Walser Gruppe, die eine Orange kostet. Fünfhundert Jahre nach Barbara ist sie aufgebrochen. Wieder bietet die Berglandwirtschaft den Familien kein Überleben mehr. Doch diesmal ist es keine Wanderung. Mit Zug und Dampfschiff reist Elisabeth im September 1879 zu ihrem – noch unbekannten - Ehemann nach Karabulach/ Inguschetien. Nicht eben freiwillig. Das Hochzeitsfoto spricht eine deutliche Sprache: „Meine Hand liegt auf Christians Schulter. Wir blicken uns nicht an und auch nicht den Fotografen, wir schauen vor uns hin – oder in die Ferne.“

Verliebtheit sieht anders aus, erwartungsvolle Freude auch. Was die Walser Auswanderer zusammenschweißt, nennt sich Arbeit und Not. Dem bangen Aufbruch folgen Jahre des Kämpfens um existenzielle Sicherheit, schließlich ein gewisser Wohlstand. Dabei bleiben die Migranten Außenseiter. Ihre Sprache wird verlacht. Sie klinge wie Gesang. Doch in ihrem kaukasischen Dorf beharren die Schweizer auf ihrem Idiom – noch 1901, als Anna aus dem Lauterbrunnental mit Fritz aus Karabulach verheiratet wird. 500 Stück Vieh und 200 tatarische Arbeiter – das waren für ihren Vater Argumente genug, und Anna hat sich gefügt.

Integration? Fehlanzeige!

 

Arrangierte Ehen, mangelhafter Spracherwerb, Einigelung in der Herkunftskultur – kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Wer da vollmundig Forderungen nach blitzgeschwinder Integration stellt, kennt der die eigene Familiengeschichte? Weiß er, was so viele Vorarlberger Auswanderer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verweigerten? Könnte der aus der eigenen Geschichte gelernt haben für die Zukunft unseres Landes?

Die Migrationsbewegungen der Walser sind dokumentarisch gut belegt. Therese Bichsel kann sich beispielsweise auf einen Briefwechsel stützen, der fast ein Jahrhundert umspannt. Ab 1919 berichtet Anna darin von Überfällen und Plünderungen. Die nach Inguschetien ausgewanderten Familien verlieren nach und nach ihre Besitztümer und wollen zurück in die Schweiz. Willkommen sind sie dort nicht. „Man habe sich damals aus freien Stücken entschieden zu gehen, nun könne man nicht so einfach heimkehren, hieß es.“

Könnte Kanada eine Option sein, fragen sich die Ammeters? Zwar gibt es auch dort nach dem Börsenkrach hohe Arbeitslosenzahlen, aber irgendwie schaffen es einige Familien trotzdem nach Starbuck/Manitoba. Andere wie Martha und ihre Leute, ziehen in südöstlicher Richtung weiter nach Aserbeidschan – um wenige Jahre später, völlig verarmt, in der ehemaligen Heimat um Asyl anzusuchen. „Der einzige Ort, der uns blieb, war Trub im Emmental, der Heimatort meines Mannes – dort waren sie gezwungen uns aufzunehmen.“

Weibliche Perspektiven


„Die Walserin“ ist kein großer Roman, wenn man das Buch als reine Literatur liest. Es ist allerdings ein Text von eindringlicher, sozialgeschichtlicher Präzision und von einer unbestreitbaren Aktualität der Themen. Die Figuren, auch wenn sie wenig prägnant gezeichnet sind, interessieren durch ihre Perspektive. Und die ist klar weiblich. Die Rahmenhandlung dabei bildet die Lebensgeschichte von Barbara, der Heilerin, Geburtshelferin und bisweilen auch Engelmacherin aus dem Mittelalter.

Sie lehnt den Heiratsantrag von Burkhardt, dem Anführer der Gruppe ab, und dafür bezahlt sie einen unmenschlich hohen Preis: Sie wird vergewaltigt, gemieden, ausgegrenzt. Selbst der eigene Sohn wendet sich von ihr ab. Ihre medizinischen Kenntnisse werden zwar gebraucht, aber verächtlich gemacht. Schließlich wandert sie weiter. Ganz allein. Eine Migrantengruppe, die auf ihren internen Zusammenhalt angewiesen ist, übt auf die einzelnen Mitglieder brutalen Druck aus: auch dies ist ein Befund, den Therese Bichsel in aller  Deutlichkeit formuliert. Am Ende aber trägt Barbara stolz ihre blaue Schürze, ein utopisches Signal des Aufbruchs in die Eigenständigkeit.

 

Therese Bichsel, Die Walserin. Eine Familie wandert durch die Jahrhunderte, 292 Seiten, € 36,-, ISBN 978-3-7296-0898-6, Verlag Zytglogge 2015