Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Niedermair · 28. Apr 2016 · Literatur

Vorarlberger Literaturpreis 2016

Die diesjährige Ausschreibung des Literaturpreises hat in der Vorarlberger Literaturszene große Resonanz gefunden. Unter den 37 Einreichungen befanden sich zu gleichen Anteilen arrivierte Autorinnen und Autoren wie auch sehr junge, vielversprechende Talente. Der Jugendanteil habe, wie Kulturlandesrat Christian Bernhard in seiner Laudatio im Montfortsaal des Landhauses betonte, u.a. auch mit der Nachwuchsarbeit von Literatur.Vorarlberg zu tun. Der Autorenverband bietet Schriftstellerinnen und Schriftstellern die Möglichkeit öffentlicher Auftritte und agiert als Interessenvertretung für literarische Anliegen.

Stellenwert der Literatur

Die Literatur nehme in der strategischen Ausrichtung der Kulturförderung des Landes einen bedeutenden Stellenwert ein, ein Faktum, das sich in den Budgetzahlen spiegle. Vergleicht man die Budgets für Literatur und Landeskunde aus dem Jahr 2000, damals waren es 59.000 EUR, mit dem diesjährigen Budget von 374.000 EUR kann man in dieser Bilanz eine Versechsfachung des Budgets ablesen. Um die Dynamik der Literaturszene zu erhalten, wurde im Herbst 2015 für die Ausweitung und Stärkung der Literaturszene, sowie im Sinne einer besseren Vernetzung und Koordination aller literaturproduzierenden und -vermittelnden Einrichtungen, mit der Initiative Netzwerk Literatur eine Halbtagsstelle bei Literatur Vorarlberg eingerichtet, die Frauke Kühn netzwerkend und koordinierend betreibt.

Die Literaturkommission des Landes - bestehend aus Irene Selhofer, Barbara Winkler, Norbert Mayer, Jürgen Schacherl, Frauke Kühn, Winfried Nußbaummüller, als Vorsitz stellvertretend für die Kulturabteilung, und neu im Team die Literaturwissenschaftlerin Katharina Leissing, die für die Vergabe des Literaturpreises des Landes Vorarlberg verantwortlich zeichnet - hat sich im Rahmen des Juryverfahrens dazu entschieden, anstelle eines Hauptpreises zwei Arbeitsstipendien in der Höhe von 3500.- Euro zu vergeben. In einem anonymisierten Auswahlverfahren wurden diese Preise Gabriele Bösch und Petra Nachbaur zugesprochen. Im Folgenden u.a. Auszüge aus den von den beiden Autorinnen gelesenen Texten.

Gabriele Bösch
| camera obscura |

vergilbte blütenblätter | tod der hortensie |
wie einst vergessene kohlweißlinge | tanzten auch wir |
lautlos | unbestellt ausgehöhlt | befremdend | selbsterwählt |
unsere erwartungen | dem kommenden winter zu |

all unsere bilder | taugten | so wenig wie | wir |
da sie fielen | wie samen | ausgestanzt | aus einem |
unbedacht | viel zu | herzlos der rahmen |­  
der schmerz | ist | ein tier |

der schmerz ist | ein tropfen aus eis |
ein wortloses los | ausgestreckt | zwischen dornen |
und doch | blaues schimmern | im kleinen winkel | erinnern |
die ordnung | der knebel | für unseren himmel | darin |

im fallen des tropfens | erstarren | die tränen |
schall einer leere | hall einer dehnung |
wer will | wer wollte | dem fehlte | vertrauen |
bodenlos | dieses sprungtuch | gewoben aus nichts |

Gabriele Bösch überzeugte die Jury mit ihrem eingereichten Gedichtzyklus „camera obscura“. Sie ist 1964 in Koblach geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Hohenems. In den eingereichten Texten spürt die Autorin dem Funktionsprinzip der Lochkamera nach, die mitunter auch als Metapher für die menschliche Wahrnehmung gesehen wird. In unserem Inneren entwickeln sich Schritt für Schritt die Bilder, mit denen wir unsere Realität konstruieren und mit Hilfe derer wir unser Selbst in ein Verhältnis mit dem Außen stellen. Die Gedichte sind sprachlich raffiniert gemacht, es handelt sich um unsentimentale, kraftvolle Naturwahrnehmungen, stille Wortmalereien und eindrucksvoll poetische Verdichtungen.

Ein besonderes Stilmittel ist dabei der durchgehende senkrechte Strich, den Gabriele Bösch zwischen ihre Worte und Satzfragmente stellt. Diese von Grafikern geschätzten Satzzeichen, bei den Programmierern Pipe genannt, kommt eigentlich aus der EDV und der Mathematik. Der deutsche Fachbegriff für das Computerzeichen lautet Verkettungszeichen. Tatsächlich sind in der „Camera obscura“ Momentaufnahmen ganz unterschiedlicher Art subtil miteinander verkettet, in einem dicht verwebten Netz tauchen Farben, Stimmungen, Klänge und Worte als poetische, mehrfachbelichtete Momentaufnahmen auf.

 

[P. N.: LELE. Schundheft Nummer zehn]

Gute Mutter!

Sterne funkeln. Sechs Buben zelten. Bruce und Peter rudern durchs Dunkel. Enten beleben den See. Der Fuchs huscht ums Ufer. 
Der Bus zur Jugendherberge rumpelte sehr. Ursel musste brechen. 
Uns schmeckten Erbswurstsuppe und Kuchen. 
Der Lehrer redet selten. Er nennt uns Elfen und Feen, Buben nennt er „Jungs“. 
Steppdecken, gemusterter Bezug. 
Fenster gen Westen. Sue und Elke spucken Kerne und schnuppern gesunde Luft der Ebene.
Ruth schlummert. Clemens, Fred und Uwe gurken durchs Feld. Pferde ruhen. Der Uhu ruft.

Gruß und Kuss
Puppe

Bei Petra Nachbaurs Text handelt es sich um einen erfrischend satirischen Beitrag, in dem die Bürser Autorin einen witzig-skurrilen und zugleich wortgewaltigen Dialog im Comic-Stil entspinnt. Vom Titel „LELE. Schundheft Nummer zehn“ ist Ulrich Gabriel alias Gaul als Verfasser und Herausgeber von Schundheften zu nennen. Nachbaur arbeitet mit dem Anagramm-Prinzip, das namentlich von griechisch „anagraphein“‚ dem „Umschreiben“ herrührt. Der eigene Text entsteht dabei, indem aus anderen Texten Buchstaben, Silben, Satzfragmente durch Umschreibungen verändert werden. Ihr persönliches Buchstabenspiel nimmt faktisch Bezug auf Vladimir Nabokovs legendären Roman Lolita. Lust- und respektvoll zugleich nähert sich die Autorin diesem skandalumwitterten 50er-Jahre Klassiker, in dem der russisch-amerikanische Schriftsteller die ambivalente Geschichte einer verzweifelten, destruktiven Liebe erzählt. Nabokovs „Lolita“ selbst ist voller Parodien und Anspielungen auf die Weltliteratur, der Text ist ironisch, tragikomisch und melancholisch. Auch Nachbaur beginnt harmlos, baut mit erstem Sex im Ferienlager Spannung auf, lässt es knistern und die Protagonisten zuletzt mit lautem PUFF und PENG in Boshaftigkeit abdriften. Konzeptiv entscheidend ist, dass Petra Nachbaur die Selbstlaute ihrer Lolita, das „o“, „i“ und das „a“ in ihrem Text ausblendet, und damit nur das „u“ und „e“ zum Klingen kommen. Ihre Hauptfigur Puppe spricht, ohne „Ich“ zu sagen und emanzipiert sich damit von ihrer literarischen Vorlage.

Nachbaur ist Mitglied der Grazer AutorInnenversammlung, wissenschaftlich und journalistisch tätig ist die in Bürs lebende Autorin bei verschiedenen Institutionen und Printmedien, etwa beim Standard, den VN und der Tiroler Straßenzeitung „Zwanzger“. Engagiert hat sich Petra Nachbaur zudem in der autonomen Frauenszene, etwa im Rahmen der Interventionen im öffentlichen Raum mit Archfem in Innsbruck mit einer Aktion zur „schwarzen Päpstin“.

Begleitet wurde die großartige Literatur der beiden Autorinnen am späten Montagnachmittag vom Ensemble Flajolet des Vorarlberger Landeskonservatoriums. Die vier Musikerinnen spielten Stücke von Michael Nyman, Jean Françaix und Pedro Itturalde.