Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Ingrid Bertel · 06. Sep 2016 · Literatur

Sex nervt - Petra Nachbaurs Schundheft „Lele“

„Schundheft“ nennt Petra Nachbaur ein Buch, das man für jeden einzelnen Satz loben möchte! „Lele“ ist Literatur, richtige Literatur. Das kommt wirklich selten vor! „Lele“ ist wunderbar und verletzend, betörend und verstörend! „Lele“ ist ein Ereignis! „Lele“ ist ein Buch über Sex und eine Hommage an Vladimir Nabokovs „Lolita“. Als 1955 in einem auf Erotica spezialisierten französischen Verlag der Roman „Lolita“ erschien, hatten die LeserbriefschreiberInnen richtig zu tun. Über Monate hinweg wurde das Buch als „pornographisch“ verunglimpft, bis der Autor dermaßen bekannt war, dass ein Großverlag das Werk prüfte und mit Vladimir Nabokov einen Vertrag darüber abschloss. Damit war der Romancier finanziell unabhängig und konnte seinen Brotberuf an den Nagel hängen.

„Lolita“ erzählt von einem pädophilen Wissenschaftler mit dem Decknamen Humbert Humbert. Obwohl der Mann sich seiner Obsession bewusst ist und deswegen auch voller Schuldgefühle, macht er die zwölfjährige Dolores Haze (er nennt sie „Lolita“) zu seiner Geliebten und benützt auch ihre Mutter sexuell, um an das Mädchen heranzukommen. Die Geschichte dieses Missbrauchs wird aus der Perspektive des Täters erzählt.

Puppe


„Lele“ dreht die Erzähl-Perspektive um. Es ist „Puppe“, die zunächst Briefe aus ihrem Ferien-Sommerlager schreibt. „Gute Mutter“, beginnt sie, „Sterne funkeln. Sechs Buben zelten. Bruce und Peter rudern durchs Dunkel.“ Ein sensitives Kind, begabt mit einem poetischen Blick. Der Ton ändert sich allerdings so rasch und unvermittelt wie das Wetter. „Du, gestern: Extrem perfekte Szenen! Um elf Uhr zuerst zum Sprungbrett. Nun zum Sprungturm. Sechs Meter!!“ Ein leichter, vertrauter Ton herrscht da zwischen Tochter und Mutter. Das Mädchen berichtet von heißen Tagen, von pubertären Fragen, von Mutproben und Mutwilligkeit. Der eigene Körper wird erforscht, bisweilen als völlig fremd empfunden. Aber Lele kann auch mit höchster Sensibilität in sich hineinhorchen und benennen, was sie anzieht, erregt oder abstößt. Wie erlebt ein Mädchen die erste Menstruation? Was trompeten die frechen Buben? „Rufen „Ru-del-bum-sedn! Ru-del-bum-sen!“ Dem Lehrer schnurz.“

„Tuschuhr Kultur“


Eine gewisse Eifersucht schwelt dann doch in diesen Briefen. Die „gute Mutter“ scheint ihrerseits ja auch erotische Erlebnisse zu haben: „Funkt es?“ fragt die Tochter. „Schrumpft Tugend? Schwelt Lebenslust? Nuschelt Quell der Versuchung?“

Der aufmerksamen Leserin ist mittlerweile etwas aufgefallen: die vielen „u“ und „e“. Petra Nachbaur hat ihr „Schundheft“ in Lipogrammen geschrieben; die Vokale „a“, „o“ und „i“ kommen in den Briefen Leles nicht vor. Lolita ist ihres klangvoll-poppigen Namens beraubt. Die Autorin zur sprachlichen Artistik verpflichtet. Und: das Verfahren lenkt den Blick weg vom Handlungsverlauf und hin auf die Erzähltechnik.

Wie schreibt man über sexuellen Missbrauch? Das Thema ist ja nachgerade von einer unheimlichen Beliebtheit bei AutorInnen. Da legt man sich mit Wonne ins Schaumbad der Gefühle, vielleicht noch mit einem Nebenblick auf den Rezeptblock von Dr. Freud. Literatur als Abteilung des Gesundheitsamts, als Ratgeber zum selbstbestimmten Dasein? Der Autor als Sozialarbeiter, der den Grund der Seelen kennt und jedenfalls alles besser weiß als das missbrauchte Kind? Nicht mit Petra Nachbaur. Wer auch nur einen einzigen von Leles Briefen oder ihren zunehmend verstörten Zetteln liest, dem muss klar werden, dass hier jede Vorstellung von emotionalem Bad einfach hirnverbrannt ist.

Mutter, huhu!


Was bei Nabokov den Pornografie-Vorwurf so absurd machte, war die Erzähl-Perspektive des schuldbewussten Täters. Wer will sich damit schon identifizieren. Wie aber verhält es sich mit Lele?

„Mutter, huhu“, fleht Puppe: „Sex nervt. Rubbeln, ruckeln, Nudel lutschen, Fut hergeben, Stunden um Stunden, zehn Stellungen, Ende null. Es juckt und brennt.“ In Missbrauchs-Geschichten wird gemeinhin die therapeutische Sicht des Nachbearbeitens eines Traumas gewählt. Dann ist der Schmutz Vergangenheit, dann beginnt das Drüberstehen, naturgemäß auch für die LeserInnen. Das aber verwehrt Lele. Distanz wird erzeugt. Literatur kann nicht erklären. Literatur kann im besten Fall – und um so einen handelt es sich hier – zur Sprache bringen.

Wen wundert’s!


Petra Nachbaur hält sich eng an den Handlungsablauf von „Lolita“, an die ziellose Reise mit dem Liebhaber, die das Mädchen aus dem Feriencamp heraus unternimmt, an die späteren Stationen mit einem neuen, „Geselle Q.“ genannt (bei Nabokov Clare Quilty). Ihm schickt sie später, hochschwanger Zettel mit der Bitte um Geld. „Erpressungsversuch? Denkste! Null Stress, echt jetzt. – Blufft der Trumpf? Merke: Bur und Nell verdeckt Luelle!“

Unschwer zu erkennen, an welcher Krankheit Lele jetzt leidet, unschwer auch zu erkennen, wie Petra Nachbaur die amerikanische Geschichte aus den 1950er-Jahren in die Gegenwart übersetzt und mit einer klitzekleinen Prise Vorarlberg pfeffert. Schön ist es zu bemerken, wie Petra Nachbaur einer Figur, die zunächst literarische Gestalt, dann Pop-Ikone und Verkaufsschlager wurde, eine Sprache gibt. Dass ein Happy End dabei genauso fehlt wie bei Nabokov, ist eine Frage der Wahrhaftigkeit. In einem Telex aus „Ulm/Regensburg/EU“ heißt es am Schluss:

„Puppe futsch + verblutet + zuerst Presswehen, Muttermund zu, Wendung nun + blutete elende sechs Stunden + Und Puppele futsch + Schnuller kullert umher + Wen wundert’s“.

 

„Lele. Schundheft Nummer elf“ von Petra Nachbaur erscheint im (nicht auf Erotica spezialisierten) Verlag unartproduktion