Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Ingrid Bertel · 16. Nov 2016 · Literatur

„In der Heimat eine Fremde“: Anne Overlacks beeindruckende jüdische Familiengeschichte

Vom Leben einer jüdischen Familie in der Kleinstadt Wangen am Bodensee erzählt Anne Overlack im ihrem reich bebilderten Band „In der Heimat eine Fremde“. Basis der Geschichte ist ein langes Gespräch mit Hannelore König, dazu kommen das umfangreiche Fotoarchiv ihres Bruders Gert Wolf sowie Tagebücher, Briefe und Dokumente aus einem Zeitraum von exakt 100 Jahren.

Was so entsteht, ist ein Bild des Schreckens. Es zeigt, wie der Nationalsozialismus soziale Bindungen, die über Jahrhunderte gewachsen waren, zerstörte. Es zeigt auch das Hineinwirken der braunen Ideologie in die angeblich neutrale Schweiz. Wie hartherzig und menschlich abstoßend die Schweizer Behörden angesichts der Not der Juden nur wenige Kilometer jenseits der Grenze reagierten, das ist ein wenig bekanntes Kapitel Zeitgeschichte.

Nathan und Jacob

Nathan Wolf ist ein sportlicher Bub und nicht unbedingt ein Musterschüler. Lieber geht er schwimmen oder sucht am Seeufer nach prähistorischen Steinbeilen. Er versteht sich prächtig mit den Bauern auf der Höri, der Halbinsel im Bodensee. Zusammen mit seinem Freund, dem späteren Dichter Jacob Picard, besucht er eine Volksschule, in der erstmals christliche und jüdische Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Mit 18 beginnt er ein Medizinstudium, hört aber auch Vorlesungen über Frühgeschichte (die Steinbeile!) und arabische Dichtung. Während des Ersten Weltkriegs kommt er als Truppenarzt nach Konstantinopel, Aleppo, Damaskus, sogar nach Jerusalem. Da zeigt ihn ein Foto hoch zu Ross vor dem Jaffator.
Er heiratet Auguste Neuhaus. Sie stammt aus einer katholisch-evangelischen Familie. „Meine Eltern waren eigentlich beide nicht fromm“, erinnert sich Hannelore König. Man feiert christliche und jüdische Feste in der Familie, weil man gern feiert und beide Religionen respektiert.
Früher war in Wangen die eine Hälfte der Bevölkerung jüdisch, die andere christlich, erzählt Nathans Mutter. Seit dem 17. Jahrhundert gibt es die jüdische Gemeinde in Wangen. Allerdings setzt unmittelbar nach Verkündigung des Toleranzedikts 1862 Landflucht ein, die das Fortbestehen der jüdischen Gemeinde bereits um 1900 fraglich macht. Auch Nathans Schwestern wandern aus. Emma heiratet Jacob Picard und zieht mit ihm nach Kalifornien, Bertha heiratet den Architekten Nicolaus Hartmann und zieht mit ihm nach St. Moritz, Clementine zu ihrem Mann Emil, einem Fabrikanten, nach Offenburg.

Eine Praxis für den arischen Arzt

Unmittelbar nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler zeigen sich tiefgreifende Veränderungen im Dorf. „Nach den Nürnberger Gesetzen, etwa 1935/36 hat sich hier ein ‚arischer Arzt‘ niedergelassen“, erzählt Hannelore König. „Auf dem Praxisschild stand nicht ‚Praktischer Arzt‘, sondern tatsächlich ‚Arischer Arzt‘. Die haben im Geburtshaus von Jacob Picard ihre Praxis gehabt. Dieser Dr. Hoffmann rannte nur in der SA-Uniform durch die Gegend, der hatte im Wartezimmer den ‚Stürmer‘ ausliegen.“ Nathan Wolf dagegen, Hannelores Vater, darf nicht mehr praktizieren. Der Schreiner Engelbert Hangarter zeigt beträchtlichen Mut, als er trotzdem an ihm festhält; seinen Posten bei der Gemeinde ist er damit los.
Nathan Wolf will mit seiner Familie auswandern. Aber wohin? Palästina scheidet wegen des Klimas aus – Auguste Wolf leidet seit Jahren an TBC. Belgien steht zur Wahl, Finnland, die Mandschurei – dort ist ein Freund Nathan Wolfs Schweizer Konsul. Aber alle Pläne zerschlagen sich.
Am helllichten Nachmittag des 9. November 1938 setzen SS-Männer die Wangener Synagoge in Brand. Sie verprügeln im Kohlenkeller des Ortsarrests die letzten jüdischen Männer und den Schreiner Engelbert Hangarter, der dabei schwere Verletzungen erleidet. Nathan Wolf kann in den Abendstunden nach Hause zurückkehren.

„Das waren keine Worte mehr – nur verzweifelte Laute“

Der Nachbarsbub Walter Bloch erinnert sich noch Jahrzehnte später: „Ich kannte ihn als eine angesehene Persönlichkeit in Wangen; als Arzt hatte er buchstäblich alle Kinder im Dorf auf die Welt gebracht… Und nun stand er da: mit zerrissenen Kleidern und blutüberströmt, sein Gesicht war ganz blau geschlagen. Ohne uns zu beachten, ließ er sich auf das Sofa fallen und krümmte sich zusammen – ein gebrochener Mann. Er schrie und heulte. Das waren gar keine Worte mehr, nur verzweifelte Laute. Er musste Furchtbares erlebt haben, nie zuvor hatte ich einen Erwachsenen so gesehen.“
Nathan Wolf wird nach Dachau deportiert und nach seiner Rückkehr im Jänner 1939 gleich wieder festgenommen. Es wird ihm vorgeworfen, illegal Geld in die Schweiz geschafft zu haben. Das ist ihm nicht nachzuweisen, aber als er nach sechs Wochen aus der Haft entlassen wird, ist klar: Eine Möglichkeit, mit der Familie auszuwandern gibt es nicht mehr. Nathan Wolf muss alleine flüchten. Über einen Freund, den Stadtpräsidenten von Schaffhausen, Walther Bringolf, gelingt es ihm, eine sogenannte „Toleranzbewilligung“ für die Schweiz zu bekommen. Die ist begrenzt auf drei Monate. 

Eine „Toleranzbewilligung“ für drei Monate

Grundsätzlich hatten Chance auf eine Einreise in die Schweiz ohnedies nur Menschen mit solidem finanziellem Hintergrund. Die öffentliche Hand sollte nicht für sie sorgen müssen. Darüber hinaus wird die Fürsprache von Freunden zu einem wesentlichen Kriterium. Nathan Wolf hat Glück. Sein Beziehungsnetz trägt. Aber er gibt sich keinen Illusionen hin. Er schreibt an das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement: „Mein Aufenthalt in der Schweiz ist auch jedenfalls nur ein vorübergehender, da ich bestimmte Aussicht habe, als Siedler & Arzt in eine palästinensische Kolonie zu kommen oder als Assistenzart in ein Spital nach Kairo.“
Einem Nachzug seiner Familie nämlich hat die Behörde vorgebaut. Auguste Wolf liegt im Sterben. Ihr Mann richtet ein Bittgesuch an die eidgenössische Fremdenpolizei, seine „Toleranzbewilligung“ zu verlängern, auch wegen seiner alleine zurückgebliebenen Kinder. In das Schweizer Sanatorium, in dem Auguste Wolf in all den Jahren zuvor behandelt worden war, wird sie nicht mehr aufgenommen, Auguste Wolf stirbt in Rohrbach, Deutschland. Der Theologe Hermann Maas gehört zu den wenigen Besuchern, die sich um sie kümmern. Er hatte sich zeitlebens für den jüdisch-christlichen Dialog eingesetzt und kann zahlreichen Verfolgten zur Flucht aus Nazideutschland verhelfen. 1944 wird er zur Zwangsarbeit nach Frankreich deportiert.
Die 13-jährige Tochter Hannelore muss die Schule in Stein in der Schweiz verlassen. Es gibt einen Erlass, wonach „Mischlinge ersten Grades“ keine höheren Schulen mehr besuchen dürfen. Das Mädchen empfindet die Verweigerung einer normalen Schulbildung als Demütigung. Aber der schlimmste Tag in ihrem Leben ist für sie die Deportation ihrer Großmutter: „…die SS-Männer kamen ins Haus, meine Großmutter saß beim Frühstück und hat sie freundlich begrüßt und wohl noch gefragt: ‚Möchten Sie auch einen Kaffee?‘ – also unfassbar. Und die nehmen meine 87-jährige Großmutter mit und die Tante Selma auch und die ganzen anderen Leute…“
Sie werden ins französische Lager Gurs deportiert. Ihre finanziellen Mittel konfisziert. Einem Verwandten gelingt es, sie unter Aufbietung des Gesamtvermögens der Familie Großmutter und Tante nach Stein, in die sichere Schweiz zu bringen. 

Unabkömmliche Arbeitskräfte

Mit ihrer letzten Kraft war es Auguste Wolf gelungen, für ihre Kinder einen Vormund zu bestellen, dem sie und ihr Mann vertrauen konnten. Er heißt Georg Tränkle und bringt die Jugendlichen bei einer Bauernfamilie als Magd und Knecht unter. Denn als „staatsgefährdende Elemente“ dürfen Hannelore und Gert nicht mehr in ihrem Landkreis leben. Dass sie nicht deportiert werden, grenzt an ein Wunder. Das Wunder hat eine bürokratische Bezeichnung: die Geschwister gelten als „unabkömmliche Arbeitskräfte.“
Nathan Wolf aber kommt vor ein Schweizer Militärgericht. Er hat sich an der Flucht einer ihm unbekannten Frau in die Schweiz beteiligt: Lotte Kahle hatte sich der Deportation entzogen. „Es handelte sich hier … um die Rettung eines Menschenlebens vor dem sicheren Tode“, erklärt er gegenüber den Schweizer Behörden.
Er wird zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, interniert und ständig überwacht. In seiner ohnmächtigen Wut verstößt er absichtsvoll gegen die schikanösen Auflagen. Das hat Ausgangssperren und den Entzug des Urlaubs zur Folge. 

Schweizer Behördenschikanen

Auch ein Antrag auf außerordentlichen Urlaub, den Nathan Wolf am 25. April 1945 stellt, wird abgewiesen. Wolf war in Sorge über den Verbleib seiner Kinder und wollte sie suchen. Er schreibt: „Da ich, sobald es die Verhältnisse erlauben, in meine Heimat Wangen am Untersee zurückkehren möchte, habe ich beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement den Antrag zur endgültigen Ausreise gestellt. Von dort wurde mir jedoch auf meine telefonische Anfrage mitgeteilt, dass ich zwar ohne weiteres die Erlaubnis dazu erhalten, dass ich dann aber zum festgesetzten Zeitpunkt ausreisen müsse und eine Rückkehr nach der Schweiz bis auf weiteres nicht in Frage komme.“ Das ist von kaum zu überbietendem Zynismus. Wolf kehrt am 31. Mai nach Deutschland zurück. Man kann es nicht anders als mieseste Rachsucht nennen, dass über ihn nun eine Einreisesperre in die Schweiz als „unerwünschter Ausländer“ verhängt wird.
Jahrelang wird er gegen seine Verbannung kämpfen. 1948 schreibt er als Bürgermeister von Wangen an die kantonale Polizeidirektion Schaffhausen: „In der Schweiz leben drei Schwestern von mir, Frau Regina Picard in Zürich, Frau Bertha Hartmann in St. Moritz und Fräulein Alice Wolf in Hölstein, die beiden letzteren Schweizerinnen; außerdem liegt meine Mutter in Stein am Rhein begraben, deren Exhumierung vorgesehen ist.“ Jetzt endlich wird seinem Gesuch stattgegeben. 

„Die ist so erschrocken, dass sie ‚Heil Hitler!‘“ gesagt hat

Hannelore und Gert Wolf, als Knecht und Magd bei einer Bauernfamilie in der Nähe von Stuttgart beschäftigt, erleben das Kriegsende mit einem sarkastischen Seitenblick: „Da kam ein Ami, hat geklingelt, und die Frau Ruoff hat aufgemacht. Und sie, die sonst immer ‚Grüß Gott‘ gesagt hat oder ‚Guten Abend‘, die ist so erschrocken, dass sie ‚Heil Hitler‘ gesagt hat. Der Ami hat das zum Glück gar nicht richtig mitbekommen. Der wollte nur ein Huhn haben.“
Auf abenteuerlichen Wegen kehren die Geschwister nach Wangen zurück – und finden dort zu ihrer größten Freude den Vater vor. „Es war ein unglaubliches Gefühl der Befreiung“, erzählt Hannelore König. „Wir waren befreit, alles andere war mir egal. Hitler war weg, der Krieg war vorbei, es gab wieder eine Zukunft.“ Dieser feste Blick in die Zukunft ist allerdings gekoppelt an ein Verdrängen der Vergangenheit. Das verstört manchen alten Freund, auch den interimistischen Vormund der Geschwister: „Herr Tränkle konnte nicht verstehen, dass mein Vater so versöhnlich war“, erinnert sich Hannelore König. „Tränkle verstand nicht, dass mein Vater mit dem Max Schnur und dem Josef Denz wieder am Tisch saß und Karten spielte.“ Wie viel Sehnsucht hat dabei mitgespielt? 

Gedenkorte

Dort wo einst die Synagoge stand, befindet sich heute der Campingplatz von Wangen. Der nahe Friedhof war 1953 und 1957 geschändet worden, ohne dass dies das geringste Aufsehen erregte. 1992 ist es anders. Hannelore König und ihr Bruder Gert Wolf setzen eine Belohnung aus, die zur Festnahme der drei Täter führt. Als Nebenklägerin hält die Juristin Hannelore König ein Plädoyer, in das sie ihr Herzblut legt: „Es gibt viele Eigenschaften, die Mensch und Tier gemeinsam haben, aber eine Eigenschaft, die sie unterscheidet. Als einziges Lebewesen auf unserer Erde begräbt der Mensch seine Toten, selbst seine Feinde. Die Achtung vor dem Tode und vor den Toten ist eines der allerältesten Kulturgüter der Menschheit. Schon in den ältesten Rechtsordnungen wurde die Zerstörung von Grabstätten mit Strafe belegt. In der Missachtung der Toten spiegelt sich immer auch die Missachtung der Lebenden.“
Hannelore König und ihr Bruder Gert Wolf setzten sich für die Achtung der Toten ein. Im September 2004, mehr als 60 Jahre nach der Verkündigung des Strafurteils und über drei Jahrzehnte nach seinem Tod wird Nathan Wolf auf Antrag der Paul Grüninger Stiftung von der Schweizer Bundesversammlung rehabilitiert.
2007 wird eine Gedenkstätte für Jacob Picard gegründet, jenen Freund, in dessen Erzählungen die Erinnerung an das jüdische Leben am Bodensee aufgehoben ist. Zur Eröffnung der Gedenkstätte hält Hannelore König eine Ansprache. Sie erinnert sich an einen Besuch bei diesem Freund während ihres Studienaufenthalts in den USA: „Er führte mich in die Public Library von New York und dort in die Europa-Abteilung. Was zeigte er mir? Sehr alte und außerordentlich wertvolle Urkunden vom Kloster Reichenau. Ich war sprachlos.“
Der geistige Mittelpunkt des Lebens war für Jacob Picard auch im New Yorker Exil der Untersee. Für Hannelore König war er es nicht mehr. Sie blieb in der Heimat eine Fremde.

Anne Overlack, In der Heimat eine Fremde, 320 Seiten, € 34 , ISBN 9783863514198, Klöpfer & Meyer Verlag, 2016