Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Philipp Schöbi · 22. Dez 2014 · Literatur

Ohne Rheticus kein Kopernikus - Rückblickende Betrachtungen zum Rheticus-Jahr 2014

Georg Joachim Rheticus (1514–1574) hat die Welt verändert. Ohne den Feldkircher hätte Nikolaus Kopernikus (1473–1543) sein epochemachendes Hauptwerk (1543) nie mehr veröffentlicht. Die kopernikanische Wende, so wie wir sie kennen, hätte nicht stattgefunden. Vermutlich würden wir heute nicht einmal um Kopernikus als Schöpfer eines neuen Weltbildes wissen.

Spekulation, Übertreibung?


Keineswegs! Denn Kopernikus selber schrieb in der an den Papst gerichteten Vorrede seines Hauptwerks, er sei eigentlich drauf und dran gewesen, „die in Angriff genommene Arbeit endgültig abzubrechen. Es waren jedoch Freunde, die mich angesichts meines längeren Zögerns, ja sogar trotz Widerstands, wieder dazu brachten.“ Drei Jahre bevor er dies niederschrieb, 1539, war nämlich der bald 70-jährige Domherr unverhofft von dem 25-jährigen Feldkircher aufgesucht worden. Der mit ansteckender Begeisterung und Hingabe beseelte Rheticus wurde von Kopernikus aufgenommen wie ein Sohn und zu dessen erstem und einzigen Schüler. Aus dem geplanten Kurzbesuch in Frauenburg wurde ein Aufenthalt von zweieinhalb Jahren.

Gleich nach Ankunft verfasste Rheticus einen ersten Bericht über die neue Lehre, den er 1540 als „Narratio prima“ zum Druck brachte. Weil die „Narratio“ auf Anhieb reißenden Absatz fand, wurde sie bereits ein Jahr danach frisch aufgelegt. Dies beflügelte auch Kopernikus und verlieh ihm neue Hoffnung für sein Lebenswerk. So schrieb dieser in seiner Vorrede weiter: „Durch solche Ratgeber also und von solcher Hoffnung veranlasst, habe ich schließlich Freunden gestattet, die Veröffentlichung des Werks, um die sie mich schon lange gebeten hatten, in Angriff zu nehmen.“ In erster Linie konnte hier nur Rheticus gemeint sein. Denn in enger Zusammenarbeit mit ebendiesem hatte Kopernikus sein schubladisiertes, bislang unfertiges Manuskript bis zur Druckreife überarbeitet, und es war auch Rheticus, der die Drucklegung des Hauptwerks konkret in die Hand nahm.

Ermordung des Augenscheins


Ohne diese legendäre Begegnung wäre die Wissenschaftsgeschichte anders verlaufen. Ihre Besonderheit und Brisanz enthüllt sich erst einem zweiten Blick: Da trifft ein junger Professor der Universität Wittenberg, Hochburg der Reformation, auf einen hohen katholischen Würdenträger, und dennoch spielt bei den beiden das unterschiedliche religiöse Bekenntnis nie eine Rolle. Es geht ihnen nur um die Sache: jenes neue Weltmodell, das den Menschen für immer aus dem Zentrum der Schöpfung verbannen würde. Ein erster Fingerzeig für unsere Nichtigkeit im All. Erich Kästner schrieb einmal so treffend im Vorwort einer Biografie über den Frauenburger Domherrn: „Copernicus ermordete den Augenschein.“ Und Rheticus war sein Komplize.

Ein Universalgelehrter


Es wäre aber verfehlt, Rheticus‘ Bedeutung für die Wissenschaften nur in seiner Geburtshelferrolle für die Herausgabe des kopernikanischen Hauptwerkes zu sehen. Mit seinen eigenen Arbeiten schuf er wahre Meilensteine der Mathematikgeschichte. Und in seinen Bemühungen, die Lehre des Paracelsus bekannt zu machen, wurde er zum maßgeblichen Künder für einen weiteren Revolutionär der damaligen Wissenschaften. Wie unglaublich weit Rheticus seiner Zeit in vielem voraus war, offenbart sich erst im Detail und zeigt ihn nicht nur als eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts, sondern geradezu als einen Wegbereiter der Neuzeit.

Adolf Müller S.J.


Die immense Bedeutung von Rheticus in der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere in der Astronomie und der Mathematik, steht heute bei Fachleuten weltweit außer Frage. Erstmals auf den Punkt gebracht hat dies wohl der Jesuitenpater Adolf Müller S.J. (1853-1939), von dem die erste ausführliche Rheticus-Biografie stammt (1917). Bekannt wurde Müller vor allem für seine grundlegenden Arbeiten über Kopernikus (1898), Kepler (1903) sowie Galilei und dessen Prozess (1909). Er schreibt: „Ohne Rheticus kännten [sic] wir keinen Kopernikus, ohne Kopernikus keinen Keppler, ohne Keppler keinen Newton!“ – Seine prägnante Einschätzung wird heute, zumindest im Grundsatz, von den Astronomiehistorikern in aller Welt geteilt.

Niveau ist keine Hautcrème


Umso erstaunlicher, dass Rheticus bis dato nicht einmal in seiner engeren Heimat Vorarlberg den meisten Leuten wirklich ein Begriff ist, oder wenigstens in höher gebildeten Kreisen mehrheitlich in seiner wahren Bedeutung erkannt wird: „Rheticus? Ist das nicht der, mit dem die Feldkircher in diesem Jahr so ein Zeugs haben?“ Dabei hätte das Jahr 2014, in dem sich der Geburtstag des zweifellos bedeutendsten Vorarlberger Wissenschaftlers zum 500. Male jährt, mit Fug und Stolz vom ganzen Bundesland gefeiert werden dürfen.

Rheticus-Jahr 2014


Rheticus‘ Heimatstadt hat das Jubiläum ihres weltberühmten Sohnes angemessen und würdevoll begangen. Die Montfortstadt erklärte 2014 kurzerhand zum Rheticus-Jahr und stellte es umfassend unter das Zeichen des Humanismus. Diese Geistesströmung der Renaissance, in der Feldkirch eine bis heute nachwirkende Blütezeit erlebte, stand denn auch im Zentrum der Feldkircher Neujahrsansprache des österreichischen Philosophen Dr. Clemens Sedmak, der insbesondere Rheticus‘ Bedeutung hervorhob.

Geburtstags-Feierlichkeiten


Am Sonntag, 16. Februar 2014 jährte sich Rheticus‘ Geburtstag zum 500. Mal. Bereits am Vorabend eröffnete der frühere Landesarchivar Prof. Dr. Karl  Heinz Burmeister, der mit seiner dreibändigen Rheticus-Biografie (1967) die Grundlage jeglicher Rheticus-Forschung schuf, mit einer Rede zum „Humanismus in Feldkirch“ die Festlichkeiten und gleichzeitig eine sehenswerte Ausstellung zum selben Thema im Palais Liechtenstein. Beschlossen wurde der Abend mit einer international und hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion über Rheticus‘ Bedeutung für die Wissenschaft.

Der eigentliche Festakt am Geburtstag fand auf der Schattenburg statt, umrahmt von Renaissance-Musik, teils aus der Feder von Freunden des Rheticus. Die Jubiläumsansprache hielt der dazu eigens aus Kanada angereiste Dennis Danielson, Autor der Rheticus-Biografie „The First Copernican“ (2006).

Humanismus-Ausstellung


Die erwähnte, vom Feldkircher Stadtbibliothekar Dr. Hans Gruber kuratierte Ausstellung „Mehr Gelehrte als Rom“ ist bestückt mit unglaublich exklusiven und wertvollen Exponaten, vor allem mit Schätzen aus dem Feldkircher Stadtarchiv und der Stadtbibliothek. So finden wir dort nicht nur die „Narratio prima“ des Rheticus sowie das Hauptwerk „De Revolutionibus“ des Kopernikus, sondern etwa auch die erste gedruckte Deutschlandkarte des Feldkircher Humanisten Hieronymus Münzer. Eigentlich war die Ausstellung nur bis Ende 2014 geplant, erfreut sich aber einer derart großen Beliebtheit, dass sie noch bis Ende März 2015 verlängert wird. Allein bisher fanden weit über 50 Führungen statt.

Neue Rheticus-Biografie


Am Georgstag, 23. April 1514, wurde Stadtarzt Georg Iserin, der Vater von Georg Joachim Rheticus, mitsamt Familie in Feldkirch eingebürgert. Exakt 500 Jahre danach erschien in Feldkirch die neue Biografie „Rheticus – Wegbereiter der Neuzeit“.[1] Der reich bebilderte und von Georg Vith herrlich gestaltete Band gibt einen facettenreichen Einblick in Rheticus‘ Leben und Wirken wie nie ein Werk zuvor. Diverse Kritiken heben hervor, das Buch sei äußerst spannend geschrieben und beleuchte die nicht eben einfache Thematik in einer ausnehmend schönen, auch für den Laien verständlichen Sprache.

Weitere Aktivitäten


Im Rheticus-Jahr 2014 fanden auch diverse Themen-Führungen zum Humanismus, astronomische Führungen und solche beim Rheticus-Denkmal in Feldkirch statt. Zudem gab es zahlreiche Vorträge über Rheticus im In- und Ausland, etwa den Festvortrag beim 25. Schweizerischen Tag über Mathematik und Unterricht. Sogar eine Krakau-Reise unter dem Motto „Auf den Spuren von Rheticus“ kam zustande, gekrönt mit der Sensation, dass der Reisegruppe das berühmteste und wertvollste Schriftstück von ganz Polen, das originale Kopernikus-Manuskript gezeigt wurde.

Wittenberg und Feldkirch


Auch die Lutherstadt Wittenberg, in der Rheticus studiert und später gelehrt hatte, feierte das Jubiläum mit zwei großartigen Festveranstaltungen zu Ehren des Vorarlbergers. Als Zeichen höchster Wertschätzung hielt dabei kein Geringerer als Sachsen-Anhalts Ministerpräsident, der Physiker Dr. Reiner Haseloff, einen vorzüglichen Festvortrag: „Rheticus – zum 500. Geburtstag eines Universalgelehrten“.[2]

Ohne Burmeister kein Rheticus


Was wir heute über Rheticus wissen und dass eine Begehung des Rheticus-Jahres in diesem Rahmen überhaupt möglich wurde, verdanken wir größtenteils K.H. Burmeister. Im Laufe des Rheticus-Jahres 2014 vollendete er ein neues Grundlagenwerk zum Feldkircher Gelehrten: „Magister Rheticus und seine Schulgesellen“. Es soll im März 2015 erscheinen.



[1] Ph. Schöbi / H. Sonderegger (Hrsg.): Rheticus – Wegbereiter der Neuzeit. Eine Würdigung. Zweite und erweiterte Auflage. Gebunden, 256 Seiten, Bucher Hohenems 2014. ISBN 978-3-99018-263-5. EUR 28.00.

[2] Zu finden auf den Webseiten der Stadt Feldkirch sowie der Rheticus-Gesellschaft