Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Ingrid Bertel · 04. Jun 2018 · Literatur

Mord ohne Motiv: Michael Köhlmeiers zwischen Essay und Erzählung changierendes Buch „Von den Märchen“

Warum sind Märchen dermaßen brutal? Warum stört das die Kinder nicht? Und was sagen Märchen über das Erzählen überhaupt aus? Michael Köhlmeier weiß die Antworten.

In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da saßen vor dem Kamin Großmütter und erzählten den Kindern wundersame Märchen. So behauptet es zumindest die bürgerliche Überlieferung. Michael Köhlmeier hatte das Glück, dass ihm tatsächlich eine Großmutter Märchen erzählte. Vor allem eines, das Märchen vom Herrn Korbes. Das ist zwar nicht so berühmt wie „Dornröschen“ oder „Der Froschkönig“. Gleichwohl stammt es aus der Sammlung der Brüder Grimm, und es ist verstörend und befremdlich:
Hähnchen und Hühnchen spannen vier Mäuschen vor den Wagen und fahren zum Haus des Herrn Korbes. Unterwegs nehmen sie eine Katze mit, ein Ei, eine Ente, eine Nähnadel, eine Stecknadel und zum Schluss einen Mühlstein. Die Tiere und die Dinge verbünden sich miteinander, um den Herrn Korbes zu erschlagen. Einen Grund dafür gibt das Märchen nicht an.

Grausame Märchen wie dieses sind ursprünglich nicht von „Ammen“ erzählt worden. Sie waren Stoff für Männerrunden. Die Erzähler waren Tagelöhner, Hausierer, Handwerker. In den Spinnstuben der weiblichen Landbevölkerung kamen sie nicht zur Sprache, vor Kindern erst recht nicht. Jacob Grimm hat später auch zugegeben, die 1812 erstmals herausgegebenen „Kinder- und Hausmärchen“ seien eigentlich gar nicht für Kinder geschrieben worden. Es ging ihm vielmehr um die Erforschung der „Volksseele“.

Die Erforschung der Volksseele

Vielleicht hat es mit dieser „Volksseele“ zu tun, dass sich Vater Köhlmeier äußerst unbehaglich fühlt, als er seinem Sohn Michael ein Märchen erzählen soll. „Es war ihm peinlich … ich sah, wie peinlich es ihm war…“ Dabei ist dieser Vater sonst ein Mann, der gerne erzählt – nur eben lieber historisch Verbürgtes. In seinen Erkundungen Napoleons oder Churchills geht es um die Motive, die einer hat, mögen sie auch schlecht sein. Es gibt Gründe dafür, dass er so handelt. Im Märchen von Herrn Korbes gibt es kein Motiv. „Das wahrhaft Böse … ist böse um seiner selbst willen“, schreibt Köhlmeier. Die Märchen werden nicht vom Menschen ausgehend erzählt, das macht sie so fremdartig, denn unter Menschen ist „die Strafe … die Folge der bösen Taten, die bösen Taten sind die Ursache für die Strafen. Der Herr Korbes aber ist in eine Welt geraten, in der all dies nicht gilt und wahrscheinlich nie gegolten hat. Ist etwas Entsetzlicheres denkbar?“

Man kann das Unbehagen von Vater Köhlmeier also durchaus verstehen. Der Bub aber spinnt sich ein in die Mordgeschichte, erzählt sie weiter. Er hat einen achtjährigen Zuhörer, dem es egal ist, was mit Herrn Korbes passiert. Er sieht sich als Mitglied der Bande von Hühnchen und Hähnchen. Michael Köhlmeier erzählt von der Geburt des Erzählers aus dem Geist der Märchen – und von seinem schlechten Gewissen dabei.

Das wächst noch, als er, mittlerweile Student, entdeckt, was es mit der ominösen „Volksseele“ auf sich hat: „Der Volksseele nachzuspüren, die sich in der Sprache eines Volkes ausdrückte und nicht nur dort, sondern auch in seinen Bräuchen, seinen Liedern, seiner Art, Recht zu sprechen, das hatte sich Jacob Grimm zur Lebensaufgabe gemacht.“ Das wollten auch Clemens Brentano und Achim von Arnim, die mit den Brüdern Grimm zusammen Lieder sammelten für das Buch „Des Knaben Wunderhorn“. Der kulturellen Hegemonie Frankreichs unter Napoleon etwas Eigenes entgegensetzen, dieses Ziel der Romantik wird spürbar im ausufernden Gebrauch des Wortes „Volk“, im Volkslied, der Volksmusik, dem Volksbuch. Und das völkische Ressentiment ist, zwar nicht bei den Brüdern Grimm, aber in ihrem Freundeskreis allgegenwärtig: „Clemens Brentano und Achim von Arnim waren Mitglieder der ‚Deutschen Tischgesellschaft‘, … einer Gemeinschaft von Personen, deren erklärtes Ziel es war, Juden aus dem gesellschaftlichen Leben Preußens fernzuhalten“, stellt Michael Köhlmeier klar. Und: „In Brentanos und Arnims Texten sind einige besonders widerliche Beispiele von Judenfeindlichkeit zu finden, ebenso bei Ernst Moritz Arndt.“ Dieser Rassismus hat eine peinigende Kontinuität in der Volkskunde gefunden, und zwar weit über die Nazizeit hinaus.

Französische Märchen

Man kann also verstehen, warum sich der Student Michael Köhlmeier seiner Liebe zu den Märchen schämt. Immerhin: Die Brüder Grimm haben ihrem Märchenbuch das Etikett „Volksmärchen“ nicht angeklebt, sie nannten es auch nicht „deutsch“, obwohl sie sonst alles Deutsche propagierten, die deutsche Grammatik, das deutsche Wörterbuch, die deutschen Sagen, die deutsche Mythologie, die deutschen Rechtsaltertümer. Und sie wussten, warum sie „Volk“ und „deutsch“ nicht mit den Märchen in Zusammenhang brachten.

Erzählt wurden ihnen die Geschichten von den Jugendlichen Marie, Amalie und Jeanette Hassenpflug, auch von den Kindern des Apothekers Wild. „Sowohl die Hassenpflugs als auch die Wilds waren Hugenotten und stammten aus Frankreich, und in nicht wenigen ihrer Erzählungen finden sich Passagen, die wörtlich mit Abschnitten aus der Märchensammlung „Contes des Fées“ von Charles Perrault übereinstimmen.“ Der hatte – das wussten die Brüder Grimm zu jenem Zeitpunkt noch nicht – die Geschichten von Dornröschen, Rotkäppchen und Aschenputtel 150 Jahre zuvor für den Hochadel aufgeschrieben.

Die Märchen waren also weder deutsch noch stammten sie aus Erzählungen des Volks. Und trotzdem passierte etwas Seltsames mit diesen Geschichten: Sie veränderten sich unmerklich mit dem Publikum, dem sie erzählt wurden. Denn die Brüder Grimm richteten sich an die Kinder des Großbürgertums, die einmal die Manieren des Adels zeigen sollten. All die Prinzen und Prinzessinnen sind also Vorlage für ein zwar machtloses, aber kulturell ambitioniertes Bürgertum. Dagegen heißt es in einer zeitgenössischen Anweisung für Kinderbewahranstalten: „Die Märchenwelt sowie alles außer dem gewöhnlichen Lebenskreis liegende muss den Kindern der Armen verschlossen bleiben: Sie dürfen sich nicht nach wohltätigen Feen sehnen, nicht nach Gold und Silberpalästen… Sie sind auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, und was ihnen als vollkommene Glückseligkeit vorgespiegelt wird, muss nicht über die Glücksgüter hinausgehen, die sie sich erwerben können.“

Der Märchenton

Dabei ist es weder die Erzählweise der Hausierer und Tagelöhner noch der höfische Stil von Charles Perrault, sondern der ganz eigene Märchenton der Brüder Grimm, der Köhlmeier fasziniert und den er zu Recht dem Märchenton Brentanos für haushoch überlegen erklärt. Was macht diesen Märchenton aus? Denken wir an „Die Bremer Stadtmusikanten“. Auch wenn wir die Details der Handlung längst vergessen haben, eines hat sich der Erinnerung unauslöschlich eingeprägt: das Bild der aufeinander stehenden Tiere. Es ist in Wirklichkeit zwar ganz und gar unwahrscheinlich, aber eben ein Traumbild, unauslotbar und unvergesslich, und vermutlich ist die ganze Geschichte rund um dieses Bild herumgesponnen worden.

Die Brüder Grimm verzichten auf Deutungen, auf den Zeigefinger sowieso. Nur einmal wurde Wilhelm Grimm diesem Prinzip untreu: Ab der sechsten Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ fügte er dem Märchen vom Herrn Korbes einen Satz hinzu: „Der Herr Korbes muss ein recht böser Mann gewesen sein.“

Das dreht das ganze Märchen um, gibt der bösen Tat ein Motiv. Damit habe es Wilhelm Grimm zwar geschafft, „mit einem einzigen unscheinbaren Sätzchen eine Welt aus der Finsternis der Grundlosigkeit in das Licht der Kausalität“ zu ziehen, schreibt Köhlmeier durchaus anerkennend, aber „abgesehen davon hat er einen Verrat begangen: Er hat dieses kleine Märchen der Behaglichkeit des Tages geopfert.“

Die Volte

Michael Köhlmeier, der kindliche Erzähler, der seinem achtjährigen Freund von Hühnchen und Hähnchen und den bösen Taten der Bande erzählt, ist da ganz anders. Natürlich liegt eine graziöse List darin, wenn der versierte erwachsene Michael Köhlmeier einem Kind die Geschichte dieser Bande in den Mund legt. Vor allem aber dreht er das Märchen einmal um die eigene Achse, denn in jeder Folge des Märchens von Hühnchen und Hähnchen fallen die bösen Taten auf die bösen Tiere und Dinge zurück. Und das ganz ohne Zeigefinger. Er werde demnächst ein Buch mit eigenen Märchen vorlegen und die Tarnung dabei beiseitelassen, sagt Köhlmeier. Sein zwischen Essay und Erzählung changierendes Buch „Von den Märchen“ ist dafür sicher eine märchenhafte Einstimmung.

Michael Köhlmeier, Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe, Haymon Verlag, Innsbruck 2018, 208 Seiten, ISBN 978-3-7099-3423-4, € 20