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Ingrid Bertel · 21. Okt 2014 · Literatur

Mitgefühl und Tierliebe - Zum Essay „Wir sehen Tiere an“ von Bernhard Kathan

Sind Tierschützer Menschenhasser? Können Vegetarier das Elend der Massentierhaltung beenden? Lassen sich Katzen zu Tode füttern? Bernhard Kathan vertieft sich in seinem Essay „Wir sehen Tiere an“ in die Geschichte der Tierliebe.

Seit 160 Jahren gilt er Kindern als Inbegriff des Tierquälers: der bitterböse Friederich aus dem „Struwwelpeter“. Er schlägt nicht nur „die Stühl und Vögel tot“, er plagt auch Hunde und Katzen und peitscht „ach sein Gretchen gar“. Der Tierquäler ist ein böser Mensch, und wer Tiere liebt, gilt als friedfertig und gut. Aber stimmt das?
Im Sommer 2010, nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, bekommt Bernhard Kathan von einem Freund eine Reihe verstörender Briefe. „Ich sähe gerne die vollbelegten Badeplätze der Meeresstrände mit Blut gefärbt“, heißt es da. „Menschenblut! Sie lägen dann, in meinem Bilde, wie vorher, nur mit durchschnittenen Kehlen, manche etwas verkrümmt in dieser letzten Lust, die ihnen ja das Wichtigste war im Leben. Im Leben, wie sie es verstehen. Lieber noch sähe ich sie in Erdöl ersticken, von dem sie mehr leben als von allem anderen.“ Damit wären wir bei Klischee Nummer zwei: Wer Tiere liebt, hasst Menschen. Bernhard Kathan glaubt weder den einen noch den anderen, sondern vertieft sich in die Geschichte der Tierschutzbewegung.

Das Augenspiel


Das erste Tierschutzgesetz wird 1822 im viktorianischen England verabschiedet. Es erwähnt Kühe, Schweine, Schafe – keineswegs aber Katzen oder Hunde. Und im Mittelpunkt steht das Pferd. Das ist kein Zufall, war das doch ein in zahllosen Romanen erprobter Topos. So erzählt etwa Fjodor Dostojewski in „Raskolnikows Traum“ von einem Fuhrmann mit blutunterlaufenen Augen, der auf ein Pferd einschlägt, mit seiner Peitsche immer wieder die Augen des Tiers trifft und sich auch von einem weinenden Kind nicht Einhalt gebieten lässt. Die entscheidende Rolle spielen dabei die sanften, traurigen Augen des Pferds, der Blickwechsel zwischen Tier und Mensch.
„Tiere sehen dich an“ heißt es mahnend seit dem Bestseller von Paul Eipper. Denselben oder ähnlich lautende Titel tragen eine ganze Reihe von Büchern, so etwa Hans Wollschlägers erstmals 1987 erschienener Essay „Tiere sehen dich an oder Das Potential Mengele“. Der Untertitel stellt klar, wie der Tierschützer den Menschen im Allgemeinen einschätzt. Aber sehen uns Tiere wirklich an? Und wenn, was sehen sie? Bernhard Kathan plädiert für eine Umkehrung der Fragestellung: Warum sehen wir Tiere an?

Tierindustrie


Wir haben gelernt, Tiere zu „vermenschlichen“, ihnen eine Empfindungsfähigkeit, ein Bewusstsein zuzuschreiben, das dem unseren ähnlich ist. Gleichzeitig braucht man nicht den „Problembären“ Bruno oder die entlaufene Kuh Yvonne zu bemühen, um festzustellen, dass das Mitgefühl mit Tieren nur allzu schnell in sein Gegenteil umschlagen kann. Denn unsere Tierliebe speist sich nicht aus dem täglichen Umgang mit Tieren, aus dem Wissen um ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten. Sie ist ein zutiefst urbanes Phänomen. „Die Tierschutzbewegung verdankt sich der Industrialisierung, zeitgleich mit den ersten großen Schlachthöfen taucht sie auf.“ Mit einiger Ironie beschreibt Kathan die Auswirkungen – sie liegen nämlich ganz und gar im Interesse der Tierindustrie, von den Viehtransporten bis zu den Fluchtwegen, die direkt zum Bolzenschussapparat führen. „Massentierhaltung und der damit verbundene enorme Fleischkonsum sind nur zwei Seiten einer Medaille. Im einen wie im anderen spiegelt sich eine grundlegende Entfremdung des heutigen Menschen von der Natur.“

Dass im Verzicht auf Fleisch noch lange keine Lösung liegt, hat sich herumgesprochen. Veganern ist die ökologische Belastung durch transatlantische Transportstrecken für ihre Kokosmilch ebenso egal wie die Monokulturen, in denen Menschen zu Billigstlöhnen ausgebeutet werden. Und Vegetarier vergessen schnell, dass Alpweiden nur durch Tiere erhalten werden können und dass dem Garten ein paar Schnecken fressende Enten besser tun als Insektizide. „Keine Tiere töten, schön und gut. Man muss keine Schuhe aus Leder tragen. Aber jedes Ölbohrloch – Voraussetzung für Kunststoffschuhe – ist unabdingbar mit dem Tod zahlloser Tiere verknüpft. Erneuerbare Energien. Hört sich auch gut an. Ob Fotovoltaik oder Hackschnitzelheizung, all das ist untrennbar mit dem Tod von Tieren verbunden. Freilich denken die Wenigsten auch nur einen Augenblick daran, dass nicht nur Bäume, sondern mit ihnen auch Tiere, etwa Jungvögel, geschreddert werden, dass mit der großflächigen Bewirtschaftung von Landschaften Lebensraum von zahllosen Tieren verloren geht. Auch vegan lebende Menschen sind auf eine Landwirtschaft angewiesen, deren Bodenbearbeitungsmethoden unmittelbar den Tod von Tieren zur Folge hat.“

Wie ein Käfer


Es ist die schiere Ahnungslosigkeit, das blanke Nichtwissen, das unsere anthropomorphisierende Tierliebe erzeugt, betont Kathan, und verweist auf ein korrespondierendes Phänomen: Was uns an Menschen fremd und unbegriffen bleibt, wird schnell als „tierisch“ gebrandmarkt. Kathan verweist auf die Romane von Zola, Swift, Dostojewski, Upton Sinclair oder Musil. So setzt beispielsweise Robert Musil in seiner Erzählung „Grigia“ die Geliebte Magdalena Lenzi einer Kuh gleich. „Hat Grigia einen viel zu schweren Rückenkorb zu tragen, so setzt sie, mögen ihre Knie biegen, ihre Halsadern anschwellen, auf ein Zeichen hin wie ein „still gewordenes Tier“ ein Bein vor das andere. Müht sie sich mit einem Heupack ab den es einzutragen gilt, so muss er an einen Pillendreher denken, der eine Kugel vor sich herrollt, die viel größer als er selbst ist. Und gibt sie sich ihm im Heu hin, dann ist es ihm, als läge er auf einem Käfer.“
Eine etwas klarere Struktur hätte Kathans Essay gut getan, doch seine Thesen überzeugen gerade in ihrem stillen Pragmatismus. Wenn wir das Fremde in uns selbst verleugnen, aber auch wenn wir das Tier zum treueren Freund als den Mitmenschen erklären, dann verleugnen wir die komplexen Beziehungen zwischen Tier und Mensch. So verlieren wir auch den Respekt vor dem Außermenschlichen, warnt Kathan. „Es ist wohl eine traurige Ironie, dass gerade eine Gesellschaft, die vorgibt, sich wie keine andere vor ihr um das Wohl der Tiere zu kümmern, den Nutz- und Beziehungstieren alle Würde geraubt hat, jedes Fremdsein. Wir gestehen den Tieren das Recht auf ein schmerzfreies Leben wie einen schmerzfreien Tod zu, kaufen sie aber wie Konsumgüter, füttern sie zu Tode, sperren sie in Wohnungen und kontrollieren ihr Geschlechtsleben.“

 

Bernhard Kathan, Wir sehen Tiere an, Essay, 184 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, € 13, ISBN 978-3-99039-026-9, Limbus Verlag, Innsbruck 2014