Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Jürgen Schremser · 04. Jän 2017 · Literatur

„Lob des Lesens“: Reichhaltiges Jubiläumsjahrbuch zum 15-jährigen Bestehen des Literaturhauses Liechtenstein

Das Jahrbuch Nr. 10 des Literaturhauses Liechtenstein versammelt eine beachtliche Bandbreite an Sprachkunst, zu deren Förderung am Standort Liechtenstein das Literaturhaus im Jahr 2001 gegründet wurde. Neben Rück- und Ausblicken der feiernden Herausgeberin gibt der vorliegende Jubiläumsband vor allem den Schreibenden Raum: 39 deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die in den letzten zehn Jahren mit dem Literaturhaus in Verbindung standen, spendeten eigens zum Jubiläum verfasste oder dafür ausgewählte „Textgeschenke“.

Nobel eingeschlagen in ein türkises Cover mit den emblematischen Zeichen der doppelten Jubiläumsziffern 15/10 für das Bestehen von Literaturhaus und dessen Buchreihe, präsentiert sich ein Band, der die Feier seines Trägervereins ganz der Darbietung und Reflexion der literarischen Sache widmet. Im aktuellen Jahrbuch enthalten ist variantenreiche Kurzprosa, abwechselnd mit Lyrik und Essayistischem, sowie vereinzelt Texte, die in Diktion und Szenerie dramatische Qualitäten bieten. Auch wenn die Stärken der Beiträge für die Leserschaft in Unterschiedlichem liegen mögen, von thematischem Naheverhältnis und stilistischen Vorlieben bedingt, so besticht dieser Jubiläumsband doch mit einer in Sprachgebrauch, Tonfall und Erzählperspektiven beachtlichen Vielstimmigkeit. Dass dabei ausgerechnet die lokalen alemannischen Mundarten nur mit einem Gedicht vertreten sind, mag einen gewissen Bedeutungsschwund dieser Sprachvariante anzeigen, zumal im literarischen Gebrauch.

Autobiografische Perspektiven

Auffallend bei vielen Prosastücken in diesem Jahrbuch ist ein Erzählen aus autobiografisch anmutenden Ich-Perspektiven. Ob dies in der Form fragmentarisch (als Romanauszug bei Jens Nielsen) oder in einer bündigen Kurzgeschichte (Arno Löffler) erfolgt, ob als ironisches Selbstportrait des Schriftstellers ohne Phantasie (Wolfgang Mörth) oder in tagebuchartigen Aufzeichnungen, in denen die erzählte Zeit zwei Abende im Kino (Lucas Cejpek) oder aber mehrere Jahre (Evi Kliemand) umfassen kann. Allenthalben stößt man auf eine persönliche Selbstvergewisserung in Notizen, Episoden, Begegnungen an Orten der Kindheit oder in einer selbstgewählten Fremde. Das im Leben Übersetzungsbedürftige, Prekäre und der Festschreibung sich Entziehende erweist sich immer wieder als motivbildender Stachel einer schreibenden Zeitzeugenschaft. Bei der Stoffbewältigung schwanken freilich Vorstellungs- und Sprachkraft. Herrlich zu lesen sind jene Texte, die für Charaktere und Situationsbeschreibung einen eigenen Blick und ein eigenes Idiom entwickeln: so etwa die beklemmende Rechtfertigungsrede eines angeklagten Polizisten (Stefan Sprenger) oder der assoziative Gedanken- und Wahrnehmungsfluss eines Mannes beim Gang zur Gebärstation (Jens Nielsen): „Starkes Geschlecht, mit der Urangst unterm Bücherwissen.“ (S. 95)

Imaginationsmaschinerie

Augenöffnend für den sprachlichen Feinbau und die Darstellungskraft von Texten sind auch die im Jahrbuch aufgenommenen Gedichte. Ein feierliches und zugleich leibhaftig genaues lyrisches Sprechen bringt Michael Donhauser am Gegenüber „Welkende Tulpen“ betörend zur Geltung. Aus eigenen Lektüreerfahrungen schreiben und räsonieren mehrere AutorInnen, die mit Textinterpretation, -übersetzung und –vermittlung vertraut sind. Der Literaturhistoriker Rainer Stöckli bietet einen Exkurs zum Gebrauch des Ausrufezeichens, den er höchst belesen und unterhaltsam an Beispielen rhetorischer Redundanz oder wohldosierten Nachdrucks aufspürt. Der liechtensteinische Literaturwissenschaftler Peter Gilgen spendete dem Jahrbuch ein „Lob des Lesens“. Gilgen verweist auf eine durch die „Imaginationsmaschinerie der Literatur“ animierte Aufmerksamkeit für Vergessenes, Künftiges und Mögliches: „Das Unverständliche nimmt schärfere Konturen an und lässt sich benennen. Man wäre ärmer, wenn man diese Bücher nicht gelesen hätte.“ (S. 125)

Texterlebnisse

Die Publikation ist einmal mehr nicht nur in den Beiträgen, sondern auch in Design und Layout ein formbewusstes Medium, das dem Inhalt zuarbeitet. Regina Marxer, Covergestalterin des ersten Jahrbuchs, hat für die Jubiläumsanthologie einige Blätter ihrer Hundebewegungsstudien zur Verfügung gestellt. Die in Format und Anzahl der gezeichneten Hunde gleichbleibenden, in den dargestellten Hundeposen jedoch variierenden Grafiken durchziehen als ornamentale Syntax der anderen Art den ganzen Band. Als inhaltliche Klammer erweisen sich zwei am Anfang und gegen Ende des Jahrbuchs platzierte Beiträge der Literaturhaus-MacherInnen Roman Banzer, Verena Bühler und Hansjörg Quaderer. Die Texte enthalten Bestandsaufnahmen des literarischen Lebens an der Adresse Liechtenstein: Während Banzer und Quaderer eine pointierte, vom persönlichen Zeiterleben geprägte Tour d’Horizon durch die Kulturlandschaft Liechtensteins unternehmen, resümiert Bühler Erfahrungen in der öffentlichen Darbietung und Rezeption von Literatur in Liechtenstein. Verena Bühler war 2010 bis 2016 Verantwortliche für das literarische Veranstaltungsprogramm des Literaturhauses, das sowohl der klassischen Autorenlesung als auch dem dialogischen Vermitteln und Einführen in literarische Weltzugänge eine Bühne bot. Bühler umreißt die Philosophie einer Literaturdarbietung, die dem Publikum ein Texterlebnis mit „Intensität und Tiefe“ (S. 142), mit einmaliger Stimme und Stimmung ermöglicht. Für den einleitenden Beitrag der Herausgeber Banzer und Quaderer ist wegweisend, dass Literatur als Medium der artikulierten Mündigkeit und sozialen Selbstbeobachtung in die Geschichte tritt: „Wir reden von Literatur als sehendem Fleck auf der Bindehaut einer Gesellschaft.“ (S. 13) Literarische Stimmenbildung im Fürstentum wird in Verbindung mit einer zähen Durchsetzung von politischen Stimmberechtigungen skizziert. Quaderer postuliert für Literatur aus Liechtenstein, was für jede Literatur gelte: dass sie sich nicht von der Vorlage, dem Gegenstand, sondern vom „Sprach- und Gestaltungsvermögen“ (S. 13) her bestimme. Ob gerade aus sprachmächtiger Sicht eine Aufarbeitung des liechtensteinischen Geschehens, ein „Roman über dieses Land“ (Banzer) noch zu leisten sei, ist angesichts von kurz- und bündigen Texten wie dem hyperrealistischen „Gagatum Dadastein“ (S. 60) von Mathias Ospelt durchaus fraglich.


Jahrbuch 10|2016 – 15\10, 152 Seiten, € 25, ISBN 978-3-9523379-9-8
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