Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Peter Niedermair · 09. Jän 2018 · Literatur

Kindheit(en) in Vorarlberg - Kindergeschichten und Geschichte in einem faszinierenden Buch des Vorarlberger Kinderdorfs

„Kindheit(en) in Vorarlberg“ war in diesem Jahr mehrfach die Nummer eins der Vorarlberger Sachbuch-Bestsellerliste. Zu recht „die Besten“. Das sehr sorgfältig edierte Buch versammelt 38 persönliche Kindheitserinnerungen, Geschichten von Persönlichkeiten quer durch verschiedene soziale Schichten und Lebensalter. Diese Texte spiegeln Kindheitserfahrungen, sie vermitteln Erfahrungen und Einblicke, Stimmungen und Einschätzungen wie es war, in diesem Land nach 1945 aufzuwachsen. Sie erzählen von der Leichtigkeit kindlicher Tagträumereien, von unbeschwerten Abenteuern, von liebevoller Zuneigung und schier unglaublicher emotionaler Kälte und auch Armut. Diese Erzählungen sind eingebettet in Aufsätze, die den gesellschaftlichen und universellen Rahmen für diese Kindheiten abstecken: Die Veränderungen in der rechtlichen Stellung von Kindern, die weltanschaulich-kulturellen Positionen der Schule, die Geschichte des Vorarlberger Kinderdorfs und die sozialpolitischen Kontexte. Alle Texte sind lesenswerte Vertiefungen und kulturelle Horizonterweiterungen der Bedeutung der Kindermenschenrechte für heute.

Wichtig für das Buch war, wie Christoph Hackspiel, der Leiter des Vorarlberger Kinderdorfs, gegenüber KULTUR erzählt, einen Blick aus dem Heute zurück zu finden und Geschichte von Personen authentisch entlang der ganz individuellen Spektren, vor dem wie sie Kindheit erfahren haben, aufzunehmen. Kindheit ist immer bunt, hat alle Dimensionen, von Himmel auf Erden bis zu traumatischen Erfahrungen. Der Satz „wenn du nicht brav bist, kommst du auf den Jagdberg!“ war jene gesellschaftliche Drohgebärde, derer die Gesellschaft sich oft aus Ohnmacht gegenüber Kindern bediente – Kinder, die durch Demütigungen, Gewalt, Mangelversorgung, Rosenkriege der Eltern, kulturelle Ablehnung, ein traumatisierendes Umfeld, oft auch Eltern, die nicht die Energie und die Möglichkeiten hatten (und haben), ein Kind liebevoll zu begleiten. Man muss sich heute nicht wundern, was „da oben“ alles passiert ist. Heute gibt es in Vorarlberg Kinder, die hervorragende Bedingungen haben und gute Möglichkeiten zum Aufwachsen vorfinden. Daneben gibt es jedoch Kinder, die es, oft sehr versteckt, furchtbar haben. Darüber redet man nicht gerne. Wenn das Kindeswohl bedroht ist, tritt das Kinderdorf auf und kümmert sich derzeit um ca. 3000 Kinder, stationär im Kinderdorf, in Pflegefamilien, am Jagdberg im Internat, ambulant in den Familien vor Ort, im Netzwerk Familie, über Familienimpulse und Ehrenamt durch Präventivprogramme.

Um das Kindeswohl

Wir zeigen, berichtet Christoph Hackspiel, den Eltern vernachlässigter Kinder einen hohen Grad an Wertschätzung für das, was sie, auch mit Defiziten, zu leisten imstande sind. Eine respektvolle Begegnung, eine möglichst freundliche Grundkommunikation sei das Ziel, in Beziehung zu kommen, mit Menschen, die frustriert sind und nicht mehr an Beziehungen glauben; die sich allein gelassen fühlen, die misstrauisch sind, die selbst in ihrer Kindheit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ein wesentliches Problem heute ist, dass die Erwachsenen den Kindern nicht wirklich zuhören. Die tatsächliche Kommunikation findet heute zu einem großen Teil über elektronische Medien statt, da hat sich im sozialen Gefüge etwas geändert.

Kinder, die gute Ressourcen haben mit Eltern, die sie unterstützen, schaffen den Weg, weil ihre Talente gefördert werden. Bei manchen Kindern gelingt genau das nicht. Sie erleben sich als nicht-wertvoll und wertgeschätzt, sie entwickeln sich schützende Strategien, wie Aggressionen oder Depressionen, und lehnen die Gesellschaft ab, die sie nicht mitnimmt. Für diese ist das Spannungspotential sehr hoch und es ist wichtig, diese Kinder nicht zu verlieren. Diesen Kindern und auch deren Eltern muss man etwas Konstruktives, etwas Tragfähiges bauen, um Tendenzen von Resignation und Aggression aufzulösen. Die Gesellschaft soll in der Ressourcenverteilung viel mehr darauf achten, dass man Kinder unterstützt, insbesondere solche, die gefährdet sind. Kinder, die in ihren Grundbedürfnissen nach Zuwendung nicht beachtet werden, werden wenig Kraft haben, für sich selbst und andere einzutreten. Jugendliche, die nicht sinnerfassend lesen können, finden kaum Arbeitsplätze. Jene, die am Rand stehen, kippen leicht aus unserer Gesellschaft, flüchten in Scheinwelten und Ersatzdrogen. Der volkswirtschaftliche Aufwand für einen fünfzehnjährigen Jugendlichen, der nicht motiviert ist, weiter in die Schule oder arbeiten zu gehen, so hat das Kinderdorf mit dem Rechnungshof eine Kalkulation gemacht, beläuft sich auf zwei Mio Euro. Es ist ein Wahnsinn, wenn man nicht vorher einen Bruchteil davon investiert.

Unbeschwertes Glück im Tun

Neben allem und den zum Teil auch tiefen Verstörungen, über die in Kindheit(en) in Vorarlberg berichtet wird, sprudelt viel Wunderbares heraus. Das allen Kindern gemeinsam Schönste war jene Zeit, in der sie unbeobachtet waren und sich frei von Erwachsenen bewegen konnten. Das kommt in vielen Geschichten vor. Wir selbst erinnern uns auch, wie schön es war, als Kinder Staudämme zu bauen; wo es geheißen hat, um sechs seid ihr zu Hause und bis dorthin konnte man draußen sein. Man besaß noch keine Uhr und hatte doch ein Gefühl für die Zeit. Man sollte Kindern Spielräume lassen, damit sie ein Stück weit in eine Eigenverantwortung gehen und Erfahrungen machen können, an denen sie wachsen, dass sie Abenteuer erleben und etwas erproben können, Gefahren ausprobieren können und nicht nur die dosierte Helikopter Eltern haben, die sie genau führen und lenken. Die große Überraschung in den persönlichen Erzählungen in diesem Buch ist die Beobachtung, wie schön es ist, wenn eigentlich Kultur entsteht und Freude am Gestalten, wenn man sich das Leben aneignet und es in die Hand nimmt - das Spielen mit Kindern, dieses unbeschwerte Glück im Tun. Man muss Kinder analoge Erfahrungen machen lassen, nicht nur virtuelle. Kinder sind heute im Durchschnitt vier bis fünf Stunden mit ihren Mobiltelefonen und ihren sozialen Netzwerken beschäftigt oder im Internet unterwegs. Was das alles für Auswirkungen haben wird, wissen wir heute noch gar nicht. Wir ahnen nur, dass diese vielfältige, bunte und kreative Welt ein Stück weit durch eine virtuelle Medienwelt verloren geht.

 

Vorarlberger Kinderdorf (Hg.): Kindheit(en) in Vorarlberg, Bucher Verlag, Hohenems 2017. ISBN 978-3-99018-187-4, € 28, www.vorarlberger-kinderdorf.at