Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Ingrid Bertel · 30. Okt 2013 · Literatur

Flügelaltar mit Fleisch – Volker Demuth präsentiert seinen ersten Roman

Beim literarischen Forum Oberschwaben pflegte in den 1990er-Jahren ein schmaler junger Mann zu erscheinen. Seine Gedichte hatten die kühle Präzision medizinischer Expertisen, die Sprache wurde ihm zum Skalpell. Volker Demuth hieß der junge Dichter, der irgendwann nach Berlin zog. Jetzt hat er seinen ersten Roman vorgelegt. „Stille Leben“ ist eine bedrückend intensive Erforschung des Taubseins füreinander.

Warum können Arne und Caroline nicht zusammen leben? Volker Demuth errichtet einen Flügelaltar, vor dem er sich diese Frage immer wieder stellt, meditativ oder verzweifelt, traurig oder resignierend. Denn die Bilder auf diesem Flügelaltar bergen ein Entsetzen: Links ist Rembrandts „Geschlachteter Ochse“ zu sehen, die Mitteltafel nimmt Adriaen van Ostades „Schlachtung eines Schweins“ ein und den rechten Flügel Jan Weenix‘ „Jagdstillleben vor einer Landschaft mit Schloss Bensberg“. Auf der Predella verbreitet Pieter Aertsens „Fleischbude“ Schrecken. Doch so unbehaglich die Gemälde sind, der Biochemiker Arne kann von ihnen nicht lassen. Süchtig vertieft er sich in jedes Detail des Tötens, Sterbens und Ausweidens.

„We are meat!“


„Diese Bilder sind Ikonen der Blasphemie. Sie sind das Blasphemischste, was das Abendland an Gotteslästerung hervorgebracht hat. Sie sind Bildnisse, die den Tod nicht durch Gott und sein Opfer überwunden haben, sondern durch eine schreckliche Schönheit.“
Aber es ist nichts Sakrales oder Blasphemisches und schon gar nicht ist es ihre Schönheit, die Arne so an diese Gemälde fesselt. Verloren treibt er durch die Wirklichkeit. Demuth findet dafür beklemmende Bilder: Arne fühlt sich in einer Gruppe Taubstummer, als hätte er einen Hörsturz. Er ist wie jene Delphine oder Robben, bei denen sich eine Seite des Gehirns auszuschalten vermag, während die andere dafür sorgt, dass die Tiere den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem sie auftauchen und Atmen müssen. „Außerhalb der Zeit“ ist Arne. „In einem leeren Rausch. Am Rand der Bedeutung der Wörter. In der Grimasse eines unaufhörlichen Lachens.“
Den Handreichungen, die unsere Gesellschaft in dergleichen Situationen anbietet, verweigert er sich. Die Traumatherapie bleibt erfolglos. „Womöglich kam es mir wie ein letzter Verrat an Ute und Anton vor, das aufzugeben, was ich für das Unmittelbarste, Intensivste hielt, was ich noch von ihnen hatte: meinen Schmerz.“
Arnes private Katastrophe geschah während einer gestressten Autofahrt mit Frau und Sohn. Volker Demuth gelingt ein literarisches Glanzstück im jagenden Ineinander aus Musikfetzen, Verkehrsinformationen aus dem Radio, den Bemerkungen und Bewegungen von Ute und Anton, den Erinnerungen an frühere Besuche bei den Großeltern und den Gedanken an den Firmenkollegen Oppermann.

„Man geht davon aus, dass alle Abteilungen sich als Teil einer Gesamtstrategie sehen.
Und Ute, deren Oberkörper hart nach vorne zuckte, machte
Oh
Ganz kurz, in ihrem Blick Erstaunen wie bei einem Kind, das gerade etwas Unglaubliches gesehen hat, ich schaute nach hinten
Alles okay
meinte Anton mit seiner Piepsstimme und ohne ein Erschrecken im Gesicht, und es gab in Oppermanns Zügen nicht den Hauch eines Zweifels.“

Es ist ein banaler Auffahrunfall, den Arne verursacht. Als er aus dem Auto steigt, um die Ursache für den Benzingeruch zu überprüfen, krachen von hinten zwei Wagen in den seinen. Ute und Anton verbrennen vor seinen Augen.

„Geschichte – ein Schlachthaus. Zeit – ein Fleischerbeil.“


Arnes Schmerz ist den Kollegen im Büro zunehmend unerträglich, weshalb er seinen Beruf als Biochemiker aufgibt. Immerhin beschäftigt er sich etwas gezwungen und im Auftrag der rot-grünen Regierung mit den Folgen von BSE und dem Patentrecht auf genmanipulierte Pflanzen. Aber eigentlich interessiert ihn nur Rembrandts Gemälde eines geschlachteten Ochsen, das er im Louvre entdeckt hat: „Etwas fast Schmerzhaftes war durch meine Apathie hindurchgedrungen. Meine bleierne Stumpfheit hatte ein Loch bekommen.“

„Der wahre Apostel der Maler, das ist Thomas. Der ungläubige Thomas und kein anderer. Denn er hat nicht, wie alle anderen, einfach geglaubt, was er sah. Er wollte das offene, wunde Fleisch berühren. Und genau das ist es, was man mit dem Pinsel tun muss, wenn man damit gegen die Leinwand stößt: das Fleisch berühren! Und warum? Weil man an ihm zweifelt! Und weil es ohne diesen Zweifel keinen Grund dafür geben würde, dass die Menschen sich berühren.“

Ein paar unbeschwerte Tage verbringt Arne zusammen mit Caroline in Paris. Aber gelingt die Berührung? Oder starrt er auf Caroline wie auf seine Schlachtgemälde? Und was ist mit dieser Kunststudentin, deren letzte Arbeit darin bestand, dass sie die Maschinen in einem Waschsalon mit Fleischstücken befüllte? Francis Bacons Diktum „We are meat“ setzt Demuth lakonisch über ein Kapitel und lässt dem eine pragmatische Einschätzung des Kunstmarkts mit seinen einflussreichen Galeristen und absurden Rankings folgen: „Drei oder vier Jahre blieben einem, wenn es hoch kam. Gut war, wer die Begabung besaß, sich, wenn eine Bewegung entstand, schnell genug davon erfassen und nach oben spülen zu lassen.“

„Es werde frisches Fleisch“


Caroline verschwindet in einem von 9/11 gebeutelten New York, betreibt ihre Selbstvernichtung in einer S/M-Beziehung mit einem Kriegsfotografen, der gar nicht mehr reisen muss, um Kriegsbilder zu schießen: „Als der Fotograf auf den Auslöser gedrückt und seinen Blitz abgefeuert hatte, hatte er in einem Raum aus Staub ein paar graue Gesichter festgehalten, fassungslos, voller Todesangst, für einen Sekundenbruchteil auftauchend aus einer Staubwelt, in der sie sogleich wieder versickerten.“

Es ist nicht das glitzernde, millionenfach verbreitete Bild der von einem Flugzeug getroffenen Türme, das für Demuth den Schrecken von 9/11 ausmacht. Es ist dieser Staub, vor dem die holländischen Küchen-, Fleisch- und Jagdstilleben ein irritierendes Leuchten bekommen, eine Präsenz, mit der es die Gegenwart niemals aufnehmen kann.
Wieder in Berlin, bei Arne, inszeniert Caroline ihr Verlöschen als blutiges „Fading away“. Arne hat sein schützendes Single-Dasein ohnedies nie verlassen. „Dinge und Zeit besitzen ein besonderes Verhältnis, und es ist ein Merkmal des Alleinlebens, dass dieses Verhältnis irgendwann zu einer Art stabilem Gleichgewicht gelangt.“

Stimmt nicht, erzählt Demuth – und er erzählt es in einem Roman, dessen abgrundtiefe Trauer lange nachhallt.

 

Volker Demuth, Stille Leben, 336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 23,20 Euro, ISBN 978-3-86351-058-9, Verlag Klöpfer & Meyer, 2013