Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Annette Raschner · 09. Okt 2017 · Literatur

Es werden jedes Jahr mehr ... - Haben und Sein/V#33

Eine Rolltreppe, vermutlich in einem Einkaufszentrum (Foto: Gerhard Klocker) ziert die neue Ausgabe der von Literatur Vorarlberg herausgegebenen Zeitschrift „V“. 23 Autorinnen aus Österreich, der Schweiz, Deutschland und Liechtenstein wurden eingeladen, Texte über die Armut und das Arm-Sein mitten unter uns zu verfassen. Laut Statistik Austria waren 2016 achtzehn Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung bzw. 1.542.000 Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. 8,3 Prozent sind trotz Erwerbstätigkeit armutsgefährdet („Working Poor“). Annette Raschner hat mit Christina Walker und Andrea Gerster gesprochen; beide Autorinnen haben erstmals eine Ausgabe der „V“ kuratiert.

Annette Raschner: „Haben oder Sein“ ist ein gesellschaftskritisches Buch von Erich Fromm aus dem Jahr 1976. Demnach zeichnet sich der Geist des Seins unter anderem dadurch aus, dass maximaler Konsum durch einen vernünftigen Konsum ersetzt wird und oberstes Ziel in der Gesellschaft das menschliche Wohlsein und die Verhinderung menschlichen Leids darstellen. Davon sind wir leider weit entfernt. Der Grund, weshalb Sie Ihre Einladung an Autorinnen unter diesen Themenkreis gestellt haben?

Christina Walker: Schön, wenn Sie bei unserem Buchprojekt gleich an den berühmten Philosophen denken! Dennoch ist unser Thema etwas anders gelagert. Um das menschliche Wohlsein geht es allerdings auch. Haben und Sein sind bei uns recht wörtlich gemeint: Es geht um das „Haben“, auf dem Konto, in der Geldtasche. Es geht um das „Sein“ im Spannungsbogen zwischen bloßer Existenz und der Verwirklichung von Lebensentwürfen. Wir haben bewusst ein „und“ zwischen Haben und Sein gesetzt, denn idealerweise sollte sich ja beides im Leben ausbalancieren. Aber aus Idealfällen wird auch selten Literatur gemacht, nicht wahr?

Raschner: Sie präsentieren eine rein weibliche Perspektive mit 23 Autorinnen und einer Künstlerin. Warum?

Andrea Gerster: Die weibliche Sicht auf das Thema Armut ist eine andere. Frauen gehen mit Armut pragmatischer und kreativer um. Aber auch defensiver. Sie verstecken Armut, sie leiden stiller, sie empfinden mehr Scham und befürchten eher, dass, wenn es ganz hart kommt, ihnen beispielsweise die Kinder weggenommen werden.“

Raschner: Sie beschreiben die Geschichten im Vorwort als „empathisch, persönlich, nicht selten ironisch und verstörend dokumentarisch“. Ein für Sie überraschend buntes Kaleidoskop?

Walker: Sagen wir lieber: erhofft bunt. Wir haben Autorinnen mehrerer Generationen eingeladen, von jungen Talenten Mitte zwanzig – wie Linda Achberger oder Yeliz Akkaya – bis zu Schriftstellerinnen, die seit vielen Jahrzehnten erfolgreich veröffentlichen – wie Monika Helfer, Eva Schmidt oder Renate Welsh. Jede Autorin hat ihren Zugang dazu, bringt ihren Hintergrund mit, ihre persönlichen Erfahrungen und natürlich ihren Stil und ihre Fabulierlust. Renate Welsh etwa leitet seit 10 Jahren die VinziRast-Schreibwerkstatt in Wien, wo sie viel mit Obdachlosen arbeitet. Ihr Bericht von dort ist ebenso berührend und genauso „echt“ wie Eva Schmidts leise Erzählung über eine alleinerziehende Mutter, die um ein Lächeln ihrer Tochter kämpft. Einige Autorinnen, wie Daniela Egger oder Tanja Kummer aus der Schweiz, nehmen ihre eigenen Karrieren mit Humor und Ironie ins Visier. Dass frau vom Schreiben alles andere als reich wird, ist zwar kein Geheimnis. Es ernüchtert trotzdem, es wieder mal schwarz auf weiß zu lesen, wie mühsam dieser Beruf auf der Haben-Seite ist.

Raschner: Sie sagen es: Gerade viele Künstlerinnen leben unter der Armutsgrenze. Mehr als ein Drittel der österreichischen Kulturschaffenden verdient weniger als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Kein Wunder, dass sich da Vera Op überlegt, was 100 Euro wert sind? (das Honorar für einen Text in diesem V-Band).

Gerster: Kunstschaffenden in der Schweiz, in Liechtenstein und Deutschland ergeht es leider nicht anders. Gleichzeitig lässt es sich aber unter der Armutsgrenze nicht nur schlecht leben. Das mag zunächst zynisch klingen. Aber es sind halt nicht nur die Zahlen, die Armut ausmachen. Ich empfinde die Ausgrenzung als den entscheidenden Moment. Die Erkenntnis, dass man nirgends mehr dazugehört, macht krank. Bei Kunstschaffenden ist das Älterwerden ein kritischer Punkt. Wenn durch das Nachlassen der Kräfte die Ideen ausgebremst werden, weniger Einkommen erzielt wird und für das Alter finanziell kaum vorgesorgt werden konnte, weil es vorher immer nur knapp von Monat zu Monat gereicht hat. Das löst Ängste aus.

Was bleibt über?


Raschner:
Sie zeichnen nicht nur für die Herausgabe der neuen V verantwortlich, sondern Sie haben auch beide Textbeiträge für die V#33 verfasst. Was war Ihr persönlicher Zugang dabei?

Walker: Naja, Geldnot, Existenzangst, die Frage, was überbleibt, wenn die nächste Miete bezahlt ist, das alles ist mir als selbstständige Texterin und Autorin nicht unbekannt. Vielleicht hat mich das wach gemacht für viele andere um mich herum, die noch viel weniger haben. Den Mann aus einem Haus nebenan in Berlin etwa, der sich stapelweise die Tageszeitungen aus unserer Altpapiertonne holte, um sie zu lesen, egal, wenn sie eine Woche alt waren. Die Frau, die morgens an der U-Bahnstation saß und selbstgepflückte Blumensträuße, woher auch immer, verkauft hat: Maiglöckchen, Kuckucksblumen, wilde Astern. Die Flaschensammler überall, in Berlin, in Augsburg, in Bregenz oder Dornbirn. Es werden jedes Jahr mehr. Wir sollten hinschauen, genau das will die V#33 tun.

Gerster: Meine eigene, erlebte Armut wurde mir erst bewusst, als ich mich künstlerisch und literarisch mit dem Thema auseinandersetzte. Wenn ich in meiner Erinnerung sehr weit zurückgehe, nämlich in meine Kindheit, dann sehe ich eine 26-jährige Frau – meine Mutter, allein mit drei Kleinkindern. Wir schreiben das Jahr 1964, und die Scheidung liegt ein Jahr zurück. Weit und breit kein verantwortungsvoller Vater, der Unterhaltszahlungen zu leisten gewillt wäre, aber ein kleines Dorf mit einer Behörde und Einwohnern, die sehr genau beobachten. Dass ich als Tochter jene Zeit in schöner Erinnerung habe, ist meiner Mutter zu verdanken. Sie vermietete eines der Zimmer unserer kleinen Wohnung an einen jungen Mann, der wochenlang im Ausland auf Montage war. Ihre 16-jährige Schwester hütete uns Kinder, während meine Mutter als Kellnerin oft bis spät in die Nacht arbeitete. Mutter nähte unsere Kleider selber. Ihre Insel war das Lesen, dabei ließ sie sich nur ungern stören. Noch heute liebe ich Kartoffeln mit Apfelkompott. Das gab es bei uns mehrmals wöchentlich, weil nichts anderes da war. Natürlich ist meine Erinnerung weichgezeichnet, dennoch scheint mich die Art und Weise, wie meine Mutter existentielle Probleme angegangen ist, geprägt zu haben. Es hätte aber auch ganz anders kommen können, und diese Möglichkeiten sind in meinen Beitrag für die V#33 eingeflossen.

 

V#33 - Haben und Sein, Buchpräsentation
Do, 19. Oktober, 19.30 Uhr
AK- Bibliothek Feldkirch