Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Kurt Bracharz · 08. Dez 2015 · Literatur

Es muss nicht immer Kochbuch sein

Die Welle an Vegetarier- und Veganerliteratur hat eine zwar weitaus weniger umfangreiche, aber doch merkliche Gegenbewegung ausgelöst, es erscheinen in der letzten Zeit vermehrt Bücher über Fleisch und die daraus erzeugten Produkte.

Nicht alle spucken gleich so große Töne wie Crafted Meat (gestalten), das im Untertitel „Die neue Fleischkultur“ vorzustellen verspricht. Herausgegeben wurde es von Hendrik Haase (laut seiner Kurzbio Food Activist, diplomierter Kommunikationsdesigner, kulinarischer Kurator), Benedikt Ernst (Ökotrophologe, freier Autor, u. a. verantwortlich für den Online-Auftritt von essen & trinken, Mitbegründer des Online-Foodmagazins Smak) und Beatrix Eichbaum (Texterin und PR-Spezialistin für Food & Beverage, Pressesprecherin von Otto Gourmet) – Metzger war also keiner dabei, im Buch werden aber einige vorgestellt. Die Textsorten variieren von treuherzig (das Vorwort beginnt „in Omas Garten“ mit der hausgemachten Ahle Worscht von Hasses Großmutter, die wie Mutters Weihnachtskekse „einen einzigartigen Geschmack“ hatte) bis locker-flockig („Du kannst den Metzger aus dem Underground holen, aber niemals den Underground aus dem Metzger“, zum Bericht über das Underground Food Collective in Madison, Wisconsin), aber der Großteil ist doch vernünftig und lesenswert. Es werden einige Rassen von Schwein, Rind, Schaf, Geflügel und Wild vorgestellt (die Existenz von Ziegen scheint sich noch nicht bis Berlin durchgesprochen zu haben), das Zerlegen ist mit deutschen Zerlegungsplänen illustriert (die im Text geäußerte Meinung, die Pole position bei der Anzahl der Beef Cuts hielten die Amerikaner, lässt vermuten, dass die drei Berliner noch nie etwas von der etwas komplizierteren alten Wiener Zerlegung gehört haben), die Charcuterie wird mit „Metzgerkunst“ übersetzt, dann gibt es eine „Kleine Warenkunde“, eine Handvoll Rezepte und einige ausführliche Porträts der „Helden der Bewegung“, womit die „neuen“ Metzger gemeint sind. Über alle Einzelthemen außer den internationalen Metzgerporträts gibt es mehr in die Tiefe gehende Bücher, aber als eine erste Zusammenschau zum Thema „Crafted Meat“ ist das reich bebilderte Buch durchaus nützlich. Wer Ziegenfleisch zubereiten will, muss halt stattdessen oder zusätzlich zu „Geissechuchi“ von Erica Bänzinger (Fona) greifen, wer selber Wurst machen will, zur „Wurstwerkstatt“ von Stefan Wiesner und Monica Wiesner-Auretto (AT Verlag).

Armin Thurnher, der der jährlichen „Falter“-Beilage „Bücher-Herbst“ stets eine umfangreiche Besprechung „empfehlenswerter Kochbücher der Saison“ beisteuert, hat Melanie Grundmanns „Das Dandy-Kochbuch. Originalrezepte für Männer mit Stil“ (Rogner & Bernhard) positiv besprochen („Flirts mit der Dekadenz gehen oft daneben. Hier nicht“), allerdings auf eine Weise, die den Schluss zulässt, dass er vielleicht mehr darin geblättert als gelesen hat. Der Text kann nämlich mit der schönen Aufmachung des Buches nicht immer mithalten. Im Rezeptteil führt die Auswahl einiger historischer Menüfolgen zur Aufnahme von ausgesprochen banalen Rezepten wie zum Beispiel denen für Aprikosentörtchen, flambierte Ananas, Spargel an Butter, Brandykirschen, Kalbsbries à la Espagnole (dafür wird es schlicht in Butter gebraten) oder Soupe à la bonne femme (eine „klassische“ französische Sauerampfersuppe). Zum Thema Trüffeln wird das übliche, lediglich von Ignoranz zeugende Bla-bla geboten, von Stör-Kaviar scheint es nur eine einzige Sorte zu geben (abgesehen davon, dass in dem Buch auch der Meeräschenrogen Bottarga als „Kaviar“ bezeichnet wird), die kleinen Flugobjekte über der Tischgesellschaft in der Zeichnung auf Seite 130 können nur leere Wursthüllen, nicht aber „Frankfurter Blutwürstchen“ gewesen sein, weil solche nicht schweben können. Was das Layout betrifft, finde ich es krasse Platzverschwendung, wenn z. B. die Seite 146 links zu einem Viertel mit dem Rezept eines „Nussbranntweins“ gefüllt ist (der sich als Likör erweist) und rechts dazu das ganzseitige Foto eines mit einer klaren Flüssigkeit gefüllten Kristallglases abgedruckt ist. Doppelseiten von dieser Art gibt es noch mehr, und sie enthalten in Relation zum Preis des Bildbandes zu wenig schriftliche und bildliche Information. Auch auf die Fotos zeitgenössischer Dandys hätte ich gut verzichten können, selbst wenn sie zur Finanzierung des Buches beigetragen haben mögen. Die 24-seitige „Historie“ ist das informative Zentrum des 220 Seiten starken Buches, besteht aber hauptsächlich aus einer Aufzählung von Anekdoten über berühmte Dandys, Gourmets und Köche.

Ein von Kurt Dornig sehr schön gestaltetes Buch ist Traditionelle Gasthäuser in Vorarlberg (Bucher) von Susanne und Hartmuth Lohs. Der Untertitel lautet „Geschichte(n) und Kulinarik“, was mich veranlasste, einmal nachzuschlagen, wann und in welchem Zusammenhang das Hauptwort „Kulinarik“ aufgekommen ist. Das ist mir nicht gelungen, ich konnte lediglich feststellen, dass es den verschiedenen Duden-Bänden und anderen Wörterbüchern, die ich aus der Mitte der 1990er-Jahre noch im Regal stehen habe, noch unbekannt war. Als Hauptwort zu „kulinarisch“ gab es zwar die „Culinaria“, (so war das Kochbücherangebot der Antiquariate überschrieben), aber keine „Kulinarik“. In Wikipedia liest man es jetzt als Synonym für „Kochkunst“, was mir zu eng erscheint. Aber wie auch immer – in dem Buch der Familie Lohs ist ohnehin der „Geschichte(n)“-Teil der interessantere, denn die beiden plus Tochter haben sich als Buchautoren zu erkennen gegeben, dafür gratis gegessen (darunter relativ viele Gerichte, an denen man nicht erkennen kann, wie gut die zubereitende Person kochen kann), und anscheinend hat ihnen immer alles geschmeckt. Das ist nicht gerade informativ, wenn man wissen will, ob man ein bestimmtes Haus besuchen soll. Als willkürlich herausgegriffenes Beispiel zitiere ich aus dem Text über das „Gasthaus Löwen“ in Sulz: „Hartmuth staunt nicht schlecht, als eine Raubtierportion vor ihm platziert wird: der Löwenspieß mit Rind, Schwein und Geflügel, gegrillter Ananas, Würstchen, Röstgemüse, Grillsauce, Sauerrahmdip, Kräuterbutter, Pommes und kleinem Salat. Uff. Gott sei Dank bekommt er Unterstützung von Saskia, die sich wie so oft jene Leckerbissen rauspickt, die ihr am besten schmecken. Davor löffelt sie noch genüsslich ihre Frittatensuppe aus. Ich wähle den Fitnessteller – ein bunter Salatteller mit Hausdressing und gebratenen Hühnerfiletstreifen.“ Interessanter ist da schon, was man über die Geschichte der Wirtshäuser und die Wirtsleute nachlesen kann, allerdings sind auch diese Schilderungen knapp gehalten, weil für jede Wirtschaft nur eine Doppelseite zur Verfügung steht und der Raum ja auch noch durch sinnvolle Fotos von Haus und Interieur und unnötige von Speisen (die meisten Leser werden wissen, wie Flädlesuppe, Käsknöpfle, Hausspieß und Kaiserschmarren aussehen) eingeschränkt wird.

Ähnlich gelagert, aber anders aufgezogen ist Gruss an die Küche (orell füssli Verlag) von Daniel Böniger und Martin Weiss, laut Untertitel „eine bissige Liebeserklärung an die Zürcher Gastronomie“. Lokalregister und Adressenverzeichnis nehmen zwar 15 Seiten an, d.h. es kommen doch recht viele Zürcher Lokale in dem Buch vor, aber mit der Bissigkeit ist es auch hier nicht weit her, allerdings ist mir schon früher bei der gelegentlichen Lektüre von NZZ oder „Tages-Anzeiger“ aufgefallen, dass die Food-Journalisten der Schweiz ziemlich zahnlos zu sein scheinen. Martin Weiss ist aber immerhin der Verfasser der informativen „Urchuchi“-Reihe. In „Gruss an die Küche“ steht als Vorspruch: „Man kann einen Dartpfeil auf die Karte Zürichs werfen – und egal, wo er landet – man findet in dessen Nähe garantiert ein gutes Restaurant. 2133 gibt es in der Stadt. Wirklich schlecht ist keines.“ Nun haben zwar wohl auch Böniger und Weiss nicht alle 2133 durchprobiert, aber diese Aussage mag schon etwas für sich haben, auch ich habe in Zürich noch nie schlecht gegessen, was allerdings bei Zürcher Preisen auch eine besondere Unverschämtheit gewesen wäre. Der gröbste Ausrutscher in all den Jahren war, dass ein Meeresfrüchtesalat bei Witschi in Oberengstringen eine einzige Jakobsmuschel enthielt – alles andere waren Fischstückchen, und Fische sind keine „Meeresfrüchte“. Witschi erklärte mir dann, er habe an diesem Tag leider keine Muscheln oder Krebse geliefert bekommen. In dem Buch steht jetzt, bei einem Testbesuch sei der Scampo in der Fischsuppe nicht entdarmt gewesen und ein eigener Teller für die Muschelschalen vergessen worden, außerdem habe man Witschi beim Champagnertrinken an der Bar zusehen können – immerhin gab es diesmal wenigstens Muscheln. Sonst ist die Kritik in „Gruss an die Küche“ eher harmlos – die Gipfeli sind „vielerorts in Zürich leider zu trocken“. Gute Tipps gibt es aber schon, zum Beispiel, dass der Wurstsalat im Restaurant Burgwies in der Forchstraße aus den Cervelats von Ronny Hornecker am Albisriderplatz gemacht wird, die zu den besten „Büezerkoteletts“ der Schweiz gehören. Aus dieser Metzgerei kommen auch die spezielle Currywurst und ihre Sauce des Imbissstandes „Wurst und Moritz“ am Escher-Wyss-Platz. Natürlich finden auch „Rico’s“ (der Nachfolger von Petermanns „Kunststuben“) oder „The Restaurant“ im Grand Dolder Hotel ihren Platz im Buch, aber da geht man doch seltener hin als in eine empfehlenswerte Beiz. In dieser Hinsicht ist „Gruss an die Küche“ sehr brauchbar, ich hätte ohne diese Lektüre auch nicht vermutet, dass sich hinter den „Alpenglocken“ auf der Speisekarte von „Fischers Fritz“ Stierhoden verbergen.

Zuletzt zwei Bücher, die ich uneingeschränkt empfehlen kann, beide keine Kochbücher (wie ja auch die obigen), beide keine Bildbände (das eine mit unprätentiösen S/W-Abbildungen, das andere unillustriert), beide von profunden Kennern ihrer Sachgebiete. „Italia! Die Italiener und ihre Leidenschaft für das Essen“ (S. Fischer) von Elena Kostioukovitch ist noch einmal mit „Eine Reise von den Alpen bis Sizilien und Sardinien“ untertitelt, aber das vermittelt kein richtiges Bild vom Inhalt dieses Buches. Die Literaturagentin und Übersetzerin Kostioukovitch lebt seit zwanzig Jahren in Mailand und übersetzt seit dreißig Jahren Umberto Eco ins Russische, weshalb er auch das Vorwort zu ihrem Buch geschrieben hat. Darin stehen die bemerkenswerten Sätze: „Dieselbe Vielfalt wie die der Landschaften, Sprachen und ethnischen Gruppen kennzeichnet auch und vor allem die Küche. Nicht die italienische Küche, die man im Ausland genießt und die, so gut sie auch sein mag, wie die chinesische Küche außerhalb Chinas ist, eine Art Koiné, eine Gesamtküche, die sich an verschiedenen Regionen inspiriert und zwangsläufig Konzessionen an den lokalen Geschmack und die Erwartungen des ,mittleren’ Kunden macht, der ein ,mittleres’ Bild von Italien sucht.“ Kostioukovitchs „Italia“ handelt von den Regionalküchen und ist zwar nicht gerade das erste, aber – kurz gesagt – das beste Buch zu diesem Thema. Auch wenn Sie schon hundert Bücher zur italienischen Küche haben, kaufen Sie dieses auch noch!

Christoph Wagner (1954 – 2010) hatte die letzten zehn Jahre seines Lebens an einem Opus magnum gearbeitet, es aber nicht mehr abschließen und veröffentlichen können. Jetzt hat es seine Witwe Renate Wagner-Wittula unter dem Titel Universität der Genüsse bei Haymon herausgegeben. Sie schreibt dazu im Vorwort: „Glücklicherweise ist der Großteil der Manuskripte, Skizzen und Entwürfe erhalten geblieben und konnte somit von mir behutsam zu einem spannenden Exkurs in die Welt der Kulinarik zusammengefügt werden.“ Es sind jetzt doch immerhin noch 500 Seiten geworden, die man nicht streng hintereinander lesen muss. „Universität der Genüsse“ ist schon mehr als ein Exkurs, das Buch hat auch enzyklopädischen Charakter, ist aber, wie alles von Christoph Wagner (einschließlich seiner Kriminalromane) angenehm zu lesen. Selbst wenn Sie sich auf meinen Rat hin „Italia!“ gekauft haben – kaufen Sie „Universität der Genüsse“ auch noch, diese Anschaffungen werden Sie nicht reuen, wenn Sie sich für Kulinaria auch über den Tellerrand hinaus interessieren.