Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Martina Pfeifer Steiner · 05. Mär 2018 · Literatur

Ein Alchemist gibt Einsicht - „CALCTURA“ – herausgegeben von Gerold Ulrich

Vorerst hat man mit der Haptik zu tun. Man klappt den Buch(pappen)deckel auf und meint eine Wand abzustreichen, neugierig die Prägung nachzeichnend, sie erinnert an Brailleschrift. Es ist die Rune Calctura. Sie symbolisierte für die mittelalterlichen Alchemisten den geheimnisvollen Umwandlungsprozess von Kalkstein in Kalk und wieder zurück. Dann ein Block mit fadengehefteten schweren Blättern. Sie sind rau, fallen langsam, Seite um Seite, man prüft die Fingerspitzen – nein, nichts haften geblieben. Das Papier ist gepresstes Steinmehl, die ölig anmutende Oberfläche ist wasser- und reißfest.

Ein sinnliches Erlebnis, das einiges über Material, Handwerk und den Maler, Restaurator, Bauforscher, Lehrer und Tüftler Gerold Ulrich preisgibt. In seinem Atelier mit Werkstatt in Satteins hat man sich auf Kalk, Lehm, Kreide und Gips spezialisiert. Über den Umweg biodynamischer Landwirtschaft fand der gelernte Maler wieder zurück zu seinem Handwerk, entdeckte jedoch das Restaurieren und die Liebe zu alten, vergessenen Baumaterialien und Techniken.

Ökobilanz

Kalk, zum Beispiel, wurde früher in jeder Talschaft im Alpenraum gebrannt, meist von den Landwirten, die regelmäßig ihren Stall „auskalkten“, wussten sie doch von der desinfizierenden Wirkung. Idyllisch gelegen, oben im Wald, beim Maiensäß, baute Gerold Ulrich mit Martin Rauch seinen Kalkofen in Stampflehm. Von März bis Oktober ist er jeden Tag an der Waldlichtung und hat einen jährlichen Output von dreißig Tonnen Kalk. Mit dem LKW werden pro Partie 18 Tonnen Kalkstein aus der Region angekarrt, in den Ofen geschlichtet und 120 Stunden, das sind fünf Tage und Nächte, bei konstanter Temperatur von 900°C gebrannt. Was passiert eigentlich in dieser Feuerhölle? Dem Kalkstein wird Kohlendioxid entzogen, er glüht durch, wird weicher und verliert ein Drittel seines Gewichts. Danach löscht man mit Wasser, wenig lässt alles zu feinem Pulver zerfallen, bei mehr fängt der Kalk an zu kochen und es entsteht der breiige Sumpfkalk. Unter einer dünnen Wasserschicht ist dieser in Erdgruben jahrelang lagerfähig. Der ökologische Kreislauf ist nicht nur beim Brennstoff Holz geschlossen, sondern auch beim Kalk, der im Lauf des Trocknungsprozesses CO2 aufnehmen kann.

„Für mich ist Gerold Ulrich ein Alchemist, der immer wieder neue Rezepturen erforscht, erprobt, entdeckt, verwirft, neue Zusammensetzungen sucht, neue Oberflächen kreiert. Es ist nicht der schöne Schein, sondern die verborgene Sinnlichkeit, die sich in seiner Handwerkskunst entfaltet, uns begeistert und inspiriert.“, schreibt Dieter Henke im Vorwort zum Buch. Er ist nicht der einzige international bekannte Architekt, der in Gerold Ulrichs Atelier vorbeikommt. Die Besuchsliste lässt sich mit Gion A. Caminada, David Chipperfield und vielen weiteren fortsetzen.

Referenzen

Das Bürogebäude BE 2226 im Millennium Park Lustenau von Carlo Baumschlager, das ohne Heizung, Lüftung und Kühlung auskommt, sollte ein bedeutendes Referenzprojekt werden. Der Außenputz des 76 cm starken Hohlziegel-Mauerwerks besteht aus 15 mm Kalkgrundputz und einer Deckschicht aus 8 mm holzgebranntem Kalk. Dieser wird im speziellen Verfahren mit wenig Wasser gelöscht, gesiebt und mit gelbem Feinsand sowie Hanfstroh vermischt, aufgetragen, geglättet und eingesumpft. Eine langsame Trocknung ist essentiell, deswegen darf nie unter direkter Sonneneinstrahlung verarbeitet werden. Kohlendioxid wird nach und nach aus der Luft aufgenommen, dadurch „versinkert“ und versteinert die Putzschicht. Dieser Prozess dauert Jahrzehnte.

Bei den im Buch dokumentierten Projekten wird sichtbar, dass die natürlichen Oberflächen-Materialien nicht nur bei Denkmalschutz-Gebäuden große Bedeutung haben. Das war auch ein Hauptanliegen dieser hochwertigen Dokumentation, nämlich zu zeigen, dass die fast vergessenen ursprünglichen Materialien Kalk – Lehm – Kreide – Gips auch in der zeitgenössischen Architektur Geltung haben.

 

CALCTURA, Hrsg. Gerold Ulrich, Bucher Verlag, Hohenems 2017, ISBN 978-3-99018-421-9, € 28,-, Bestellung an: calctura@geroldulrich.com