Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Klaus Lutz · 14. Okt 2015 · Literatur

Die Gewissheit eines mächtigen Winters - Der zweite Roman von Valerie Fritsch „Winters Garten“ ist erschienen

2015 ist für die 26-jährige Grazer Autorin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch das Jahr ihres literarischen Durchbruchs: Bei Suhrkamp ist ihr zweiter Roman „Winters Garten“ erschienen, der von der Kritik und von SchriftstellerkollegInnen begeistert aufgenommen wurde und eine Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Bereits im Vorfeld als eine der FavoritInnen gehandelt, gewann sie mit der sehr eindrucksvollen Erzählung „Das Bein“ bei den diesjährigen „Tagen der Deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt zwei der vier zu vergebenden Preise, wenn auch nicht den eigentlichen Bachmannpreis.

„Winters Garten“ erzählt von einer Welt, in der alles Leben unausweichlich seinem Untergang ausgeliefert ist. Dabei beschränkt sich die Autorin auf die kollektive Stimmung und Atmosphäre, die diesem Ereignis vorausgehen, als auch auf seine Auswirkungen auf eine kleine Gruppe von Personen. Anton Winter, die eigenbrötlerische, wortkarge Hauptfigur des Romans, verbringt seine Kindheit in einer autarken Aussteigerkolonie, erzogen von seinem lebensklugen Großvater und der Natur, die ihn in Form eines großen, idyllischen Gartens umgibt. Dabei lernt das Kind den Tod als einen selbstverständlichen Bestandteil der Natur zu begreifen. Mit Antons Übersiedlung in die Stadt, wo er als Vogelzüchter lebt, in der aber auch bereits unkontrolliertes Chaos sowie allgemeine Anarchie herrschen, häufen sich seine Erfahrungen mit dem Sterben. Nach Jahren der Einsamkeit findet er in Frederike eine leidenschaftliche Partnerin, die dem kollektiven Todestrieb und Fatalismus die Liebe in ihren unterschiedlichen Facetten entgegensetzt. So arbeitet sie als freiwillige Geburtshelferin in einem „Gebärhaus“. Über Marta, die dort ihr Kind zur Welt bringt, kommt es zu einem Wiedersehen zwischen Anton und seinem Bruder Leander. Gemeinsam mit den Frauen und dem Säugling kehren sie in das verlassene und von der Natur zurückeroberte Anwesen ihrer Kindheit zurück. Dort versuchen sie, ihre letzten Wochen und Tage in Würde zu durchleben, ehe die Welt versinkt. Mit der Rückkehr an die Stätte der Kindheit schließt sich somit sowohl ein inhaltlicher als auch ein formaler Kreis.

Verstörende Unausweichlichkeit

Was den/die LeserIn rasch in seinen/ihren Bann zieht, ist die radikale Unausweichlichkeit, mit der das Geschehen auf die finale Katastrophe zusteuert. In Antons Kindheit ist die alternative Kolonie mit ihren Ansprüchen bereits gescheitert; Sicherheit und Geborgenheit gewähren nur noch die Großeltern, durch die aber auch die Erfahrung des Todes (ein „todesvernarrtes Haus“ S. 33) allgegenwärtig ist. So bewahrt die Großmutter alle ihre Fehlgeburten in Gläsern auf, die das Kind in der Speisekammer immer wieder fasziniert betrachtet: „Die winzig kleinen Körper schienen weiß wie der Mond. Sie schwammen in Formalin und stiegen schwerelos bis an die Deckel der Gläser“. (S. 19)

Mit dem Szenenwechsel in die Stadt häufen sich zunehmend Episoden, Motive, Bilder und Vergleiche, die auf das Weltenende verweisen. So beobachtet Anton Menschen, die in ihren Wohnungen Selbstmord begehen, und die kollektive Verzweiflung äußert sich im Massensuizid am Hafen. Der Autorin gelingen hier einprägsame, teilweise surreale Bilder von hoher Originalität. Die extreme Ausnahmesituation schließt alle Lebewesen mit ein, so auch losgelassene Zirkustiere: „Die Haut der Elefanten war so grau wie die Haut der Menschen. Wie Gespenster standen sie in den Hofeinfahrten, und an den Wäscheleinen hingen Horden dürrer Affen. An einer Hauswand entdeckte Anton eine Giraffe, die ihren knöchernen Hals an den Putz lehnte wie eine Leiter und deren Rückgrat aus dem verwesenden Leib emporwuchs bis zu den ersten Fenstern.“ (S. 50f)
Auch in der Natur kündigt sich zunehmend das Ende an: „… durch die Straßen stob immer öfter ein Regen leicht wie Gas. Die Sonne schien nur noch selten.“ (S. 83) Das steigert sich in einen „mächtigen, ewigen Winter“, ehe der Roman in ein furioses, alttestamentarisches Finale mündet: „In der Ferne, weit über die Felder und Wiesen hinweg, erhoben sich die Flammen in der Dunkelheit. Es musste ein gewaltiges, kilometerhohes Feuer sein, (…) ein Brand so groß, dass er auch aus dem All sichtbar war.“ (S. 151)

Österreichische Literaturtraditionen in einprägsamen Bildern

Mit „Winters Garten“ hat Valerie Fritsch einen Roman geschrieben, der sich in seinem barocken Lebensgefühl zwischen Todessehnsucht und Lebensgier sowie seiner sprachlichen Expressivität und Originalität als ein Beispiel typisch österreichischer Literatur erweist. Auch das Thema der Endzeit bzw. des Untergangs fand über Jahrzehnte Eingang in die österreichische Literatur. Ging es dabei häufig um das Ende des habsburgischen Vielvölkerstaates, verlegt Fritsch das Geschehen in eine apokalyptische Dimension – weit entfernt von klischeehaften Horrorszenarien à la Hollywood.
Der konkrete Österreich-Bezug zeigt sich auch in häufigen Austriazismen („Sacktücher“, „Narrenkastel“, „Ribiselgelee“ und immer wieder der „Gugelhupf“), die allerdings irritierend wirken angesichts der mythisch entrückten Zeit und nicht konkret lokalisierbarer Schauplätze (z.B. die Stadt am Meer).

Was den Roman für heutige LeserInnen besonders verstörend macht, sind paradoxerweise weniger die expressiven Bilder als vielmehr die zahlreichen bewusst konzipierten Leerstellen, die der Text aufweist. So erfahren wir weder, woran die Gartenkolonie scheiterte, noch was die Auslöser für die anarchischen Zustände in der Stadt sind. Schließlich bleibt es auch weitgehend dem Leser/der Leserin überlassen, den Grund für das Weltenende in einem globalen Krieg, einer weltumspannenden Atomkatastrophe, gigantischen Vulkanausbrüchen oder extremen Klimaveränderungen zu vermuten.

 

Am 21. Oktober 2015 wird Valerie Fritsch ihren Roman im Lesesaal der Vorarlberger Landesbibliothek vorstellen.

Valerie Fritsch, Winters Garten, Gebunden, 154 Seiten, € 17,50, ISBN 978-3-518-42471-1 Suhrkamp, Berlin 2015