Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Niedermair · 15. Mai 2018 · Literatur

Der selbständige Zugang zu allem, was geschrieben ist. - Lesen und wie der Akt der Emanzipation anfängt

Ende März trafen sich der aus Vorarlberg stammende Herwig Bitsche, Leiter des NordSüd Verlags in Zürich, und Peter Niedermair in Hohenems zu einem Gespräch über die Bedeutung des Lesens und aktuelle Aspekte in der Kinderliteratur.

Peter Niedermair: Lesen befriedigt ein menschliches Grundbedürfnis. In den Industrieländern beobachten wir in den letzten Jahren statistisch gesehen einen Leserschwund. Was bedeutet das?
Herwig Bitsche:
Ja, in den entwickelten Ländern schwindet der Anteil der aktiven Leser. Parallel dazu nimmt auch die Lesekompetenz ab und Verlagen und Buchhandlungen kommen Kunden abhanden. Heute stehen andere Medien im Vordergrund, wie Videogames und Smartphones, die vom Lesen abhalten. Das bedeutet, es kommen Kinder in die Schulen, die zuvor so gut wie keine Lese- und Bucherfahrungen gemacht haben. Wenn man bedenkt, dass rund 50% der Kinder in Familien aufwachsen, in denen Bücher so gut wie keine Rolle spielen, dann ist das ein besorgniserregender Zustand.
Niedermair: Was steht zwischen dem Buch an sich, wenn es bei Euch im Verlag produziert worden ist, und dem Kind, dem vorgelesen wird? Welches sind die Pförtner, wer sind die Gate Keeper?
Bitsche: Wir haben gar keine Chance, die Kinder unmittelbar zu erreichen, sondern sind auf Vermittler angewiesen. Bilderbücher sind die einzige Buchgattung, bei der nicht die Zielgruppe entscheidet, was gekauft und gelesen wird. Bevor wir also ein Kind zufrieden machen können, müssen wir die Unterstützung von Buchhändlern, Eltern, Großeltern und Pädagogen gewinnen. Aus dem Grund bin ich überzeugt, dass wir diese Vermittler ebenso stark bei unserer Programmplanung einbeziehen müssen wie unsere späteren Leser. Ohne Vermittler kommen wir nicht zum Kind. Und ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: nur ein überzeugter Vermittler ist ein guter Vermittler. Also müssen wir die Erwachsenen, die vorlesen, ebenfalls glücklich machen.
Niedermair: Der erste Kontakt mit Büchern findet zu Hause statt, weil zu Hause der Druck wahrscheinlich am geringsten ist; dort werden die Grundlagen gelegt. Je später die Begegnung mit Büchern anfängt, im Kindergarten und danach in der Schule, desto eher ist damit ein gewisser Leistungsdruck verbunden. Welche Rolle spielen die Eltern? Wie sieht man im NordSüd Verlag die Vermittlerfunktion der Erwachsenen?
Bitsche: Wir müssen die Erwachsenen in unserer Programmarbeit intensiv einbeziehen, um sie zu erreichen. Als Vorleser und Vermittler haben sie eine ganz entscheidende Rolle. Je besser es gelingt, dass sich die Vorleser mit dem Thema identifizieren, umso wirkungsvoller sind sie dann auch als Vermittler. Mit „Lindbergh“ von Torben Kuhlmann haben wir ein Buch veröffentlicht, in dem es um Technik, Fliegerei und Erfindergeist geht, eingebunden in eine spannende und abenteuerliche Geschichte. Das Buch war ein unglaublicher Erfolg und wurde von Anfang an zu einem sehr hohen Anteil von Männern gekauft. Zu 90 % entscheiden Frauen, welche Kinderbücher in die Haushalte kommen. Es ist erstaunlich, wie wenig sich Männer bei der Auswahl der Bücher einbringen. Beim Vorlesen sind sie dann durchaus wieder aktiv.

Der Mann mit dem Koffer

Niedermair: Stichwort Sachbücher und Biografien. Ich habe dieses wunderbare Kinderbuch über Walter Benjamin aus dem NordSüd Verlag von zu Hause mitgenommen. Was macht die Faszination aus? Benjamin an sich und seine Lebensende sind doch eher eine komplexe und traurige Geschichte, wie er 1940 mit einem großen Koffer unter dem Arm von Marseille verzweifelt auf der Flucht vor den Nazis nach Port Bou kommt und dort stirbt. Benjamin hat sich literarisch intensiv mit Kindheit auseinandergesetzt, u.a. in „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“. Jetzt taucht Benjamin in einem Kinderbuch auf.
Bitsche: Ich stelle mit Staunen fest, welche Vielfalt an Themen in Kinderbüchern Platz findet. Die Kombination von Wissensvermittlung mit faszinierenden Illustrationen und einer spannenden Geschichte ist sehr reizvoll. Wir haben in der letzten Zeit Bilderbücher mit biografischen Geschichten veröffentlicht. Frida Kahlo war eine herausragende Persönlichkeit, eine Ikone der Kunst des 20. Jhts., die vor allem viele Frauen inspiriert hat. Walter Benjamin ist nicht nur ein bedeutender Philosoph mit einer tragischen Geschichte, er hatte auch sehr reale Probleme: Er musste aus dem Land fliehen, in dem er lebte. Ein Thema mit dem Kinder heute unweigerlich in Berührung kommen. Und er hatte einen großen Koffer bei sich, von dem er sich um keinen Preis trennen wollte. Der Koffer ist bis heute verschollen und der Inhalt somit unbekannt. Damit wird der Koffer zum Projektionsraum sowohl für Kindern als auch für Erwachsene.

Kinderbücher sind Seismographen politischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Fragen

Niedermair: In ihren Alltagsrealitäten und Lebenswelten haben Kinder Kontakt mit komplexen Themen der Gegenwart. Sie kennen in der Nachbarschaft einen Mann, der vor zwei Jahren aus Aleppo in Syrien zu Fuß weg und hierhergekommen ist. Seine Familie kam später nach. Die Kinder treffen sich, spielen miteinander, fragen und damit aktualisiert sich die reale Geschichte der Gegenwart entlang der Geschichte im Kinderbuch „Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin“. Was können Erwachsene dabei von Kindern lernen?
Bitsche: Die Flüchtlingsdramen der letzten Jahre sind ein gutes Beispiel, wie seismographisch der Kinderbuchmarkt auf aktuelle Themen reagiert. Es hat lediglich etwas länger gedauert, bis wir ein Projekt gefunden haben, das uns in künstlerischer Hinsicht überzeugt hat. Die Illustratorin Francesca Sanna hat Flüchtlinge in Lagern besucht, um ihrem Buch die notwendige Realitätsnähe zu geben. Dass Kinder spätestens im Kindergarten mit dem Thema Flucht in Berührung kommen, liegt auf der Hand. Es ist erstaunlich, welche Details Kinder in illustrierten Geschichten entdecken, die wir Erwachsene oft übersehen. Mit Kindern lesen bedeutet also auch lesen lernen.
Niedermair: Danke für das Gespräch!

 

Herwig Bitsche: „Wie kommt die Fülle in die Leere?“
Vortrag und Kinderbuchpräsentation im Rahmen der „emsiana“
20.5., 10.30 Uhr
Bücherei Hohenems
www.nord-sued.com