Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Annette Raschner · 14. Jul 2015 · Literatur

Christoph Linher erhält für seine Erzählung „Farn“ den diesjährigen Vorarlberger Literaturpeis

Der 31 Jahre alte, in Feldkirch lebende Schriftsteller und Musiker Christoph Linher hat für seine noch unveröffentlichte Erzählung „Farn“ den diesjährigen Vorarlberger Literaturpeis erhalten. Der Preis ist mit 7.000 Euro dotiert und ist die höchste Auszeichnung, die das Land jährlich an heimische Autorinnen und Autoren vergibt. Christoph Linher war bislang ein Unbekannter in der Literaturszene. Mit „Farn“ hat er aber ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben!

Annette Raschner: In der Vergangenheit sind Sie weniger literarisch als vielmehr musikalisch als Leadsänger und Texter der heimischen Rockband „Any major dude“ in Erscheinung getreten. Die Formation hat sich mittlerweile aufgelöst. Hat die Literatur die Musik abgelöst?
Christoph Linher: Nein, nicht im eigentlichen Sinn. Auch wenn ich es musikalisch zurzeit etwas ruhiger angehe. Ich habe zwar gerade kein Bandprojekt, werde aber in absehbarer Zeit sicher auch in diese Richtung wieder etwas unternehmen. Außerdem hat ja auch das Schreiben einen musikalischen Charakter, insofern als man auch hier einem gewissen Rhythmus folgt.

Erzählung aus dem Off

Raschner: Sie nennen Ihre Erzählung „Farn“, für die Sie mit dem Vorarlberger Literaturpreis ausgezeichnet wurden, eine „Erzählung aus dem Off“. Was meinen Sie damit?
Linher: Vielleicht handelt es sich dabei um eine Art Handlungs- bzw. Leseanweisung. Ein Stück weit ist der Untertitel auch Programm. Der Erzähler versucht ständig in seiner Geschichte irgendwie anzukommen, was ihm aber nie wirklich gelingt. Er versucht, anhand seiner Erinnerungssedimente und -bruchstücke etwas über sich in Erfahrung zu bringen. Darüber hinaus handelt es sich dabei auch um ein Wortspiel und nimmt also schon einen Teil der Erzählstrategie vorweg, zumal es ja nicht wenige solcher Wortspiele und Neologismen gibt, die wahrscheinlich darauf abzielen, der empfundenen Sprachlosigkeit des Erzählers mit einer individuellen Sprache zu begegnen.
Raschner: Ein namenloser Icherzähler tastet sich in der Vergangenheit voran. Er befindet sich in einer schwierigen Lage, nachdem er von seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn verlassen wurde und zudem mit der Tatsache leben muss, dass bei einem selbstverschuldeten Autounfall eine Person schwer verletzt wurde. Was hat Sie an dieser Ausgangssituation interessiert?
Linher: Eine Situation, eine Ausgangsvehemenz ist immer wichtig, da sich von hier aus etwas entwickeln lässt. Es geht also um eine Art Standortbestimmung. Interessant war für mich der Umstand des Hausarrests, der aus dem Unfall resultiert, vor allem aber insofern, als der Erzähler nach seiner Enthaftung diesen Zustand freiwillig aufrechterhält. Das hat für mich eine metaphorische Dimension.
Raschner: Sie entlarven das Erinnern als Spielart des Vergessens. Denn: „Ich werde den Verdacht nicht los, dass man stärker erinnert, was man vergessen will“, sagt der Icherzähler. Wurde „Farn“ von Ihnen in erster Linie als philosophischer Text konzipiert?
Linher: Ich würde die Erzählung nicht unbedingt als philosophischen Text bezeichnen. Aber so ein imaginierter Gesellschaftsentzug, in dem der Erzähler ziemlich stark auf sich selbst und das eigene Denken zurückgeworfen ist, führt natürlich zwangsläufig dazu, dass die eigenen Lebensumstände und die Möglichkeiten von Sinn und Sein im Allgemeinen reflektiert werden. Das passiert allerdings nicht vor dem Hintergrund einer logischen Stringenz, Gedanken werden ja auch zum Teil nicht fertiggedacht, was dann vermutlich auch der Tatsache entspricht, dass sich die Welt nicht in ein Ordnungssystem zwängen lässt – also wahrscheinlich doch recht philosophisch ...

Sorgfalt und Aufmerksamkeit

Raschner: Die Literaturkommission des Landes war vor allem von Ihrer Erzählkunst beeindruckt. Die Erzählung wirkt streng komponiert, das Lesen erfordert Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Sind Sie ein „Langsamschreiber“?
Linher: Ich bin definitiv ein notorischer Langsamschreiber. Was phasenweise auch zermürbend ist. Aber Gedankengänge und vor allem Inspirationen lassen sich halt nicht immer auf Knopfdruck abrufen. Da werde ich dann zum Fallensteller und muss geduldig warten oder Ideen erlaufen. Bewegung ist auf jeden Fall gut für die geistige Flexibilität.
Raschner: Zeiten greifen ineinander, die Handlung folgt häufig der Form, die Erzählweise ist sehr assoziativ. Auf eine lineare Handlung scheinen Sie nicht abzuzielen?
Linher: Ich glaube nicht, dass es im Leben so etwas wie eine lineare Handlung gibt. Wir versuchen ja ständig, in der Rückschau die Dinge so zusammenzuschustern, dass sie scheinbar einen Sinn ergeben und so ein Gefühl von Kontinuität, von einem kontinuierlichen und widerspruchsfreien Ich hervorrufen. Darum schreibe ich lieber assoziativ und die dabei entstehenden Widersprüche machen mich eher neugierig.
Raschner: Welche Bedeutung hat der Literaturpreis für Sie? Welche Ziele verfolgen Sie in literarischer Hinsicht?
Linher: Der Preis freut mich natürlich. Und er gibt mir die Möglichkeit, mich noch ein bisschen mehr auf das zu konzentrieren, was ich wirklich gerne tue. Für die nahe Zukunft hoffe ich, dass sich jemand finden lässt, der die Erzählung verlegt. Langfristig gesehen möchte ich mich einfach weiterentwickeln und – schreibend – noch mehr über mich in Erfahrung bringen.

 

Textprobe:

Anzukommen in einer Geschichte, in seiner Geschichte, das wünscht sich doch letztlich jeder, darum geht es doch am Ende. Doch ich habe nichts gefunden außer ein paar vereinzelten Gedächtnispartikeln, die sich zu keiner Geschichte zusammenfügen wollen. Es handelt sich ja um Konglomerate, Schichtungen, und mit jedem Bohrkern fördert man nur Vermutungen zutage, die versuchen, das Erfahrungskolorit auf ein nachvollziehbares Spektrum herunterzubrechen. Die Taschenuhr zum Beispiel: In meiner Vorstellung mache ich sie zum Statisten oder Zeugen in einer Geschichtssequenz, die sich so wahrscheinlich gar nie zugetragen hat, aber ich... WIR brauchen diese Erinnerungstraversen, um vergessen zu können. Ich denke mir also: Die Taschenuhr meiner Großmutter ist bei ihrem Manöver, bei ihrem Sturz ins Leere aus der Brusttasche des Kleides gefallen, das Glas beim Aufprall zersprungen, das Ticken verstummt. Hätten sich, so denke ich mir, die Zeiger nicht vom Ziffernblatt gelöst, dann wäre jener Moment als Versteinerung zurückgeblieben, in dem meine Großmutter die Zeit außer Gang gesetzt hat...

Der Efeu und der wilde Wein sind Emporkömmlinge, die von meiner Nachlässigkeit profitieren. Bald werden sie sich bis zum Dachfirst hochgeschleppt und das Darunterliegende unter sich eingeschlossen haben. An der Dachkante sind bereits vereinzelt Ziegel angehoben worden, die Wasserrinne ist unter dem Blauregengewirr fast zur Gänze verschwunden. Manchmal stelle ich mir vor, dass das Vergessen die Vergangenheit überwuchert wie Kletterpflanzen, alles unter sich begräbt, lückenlos, doch die Erinnerungen brechen immer wieder hervor, träufeln einem ins Bewusstsein, ob man will oder nicht. Häufig mache ich mich auch selbst zu ihrem Handlanger. Ohne zu wissen warum, also eigentlich ganz und gar ohne meinen Willen, legte ich hinter dem Haus den Schachtdeckel der alten Klärgrube frei, riss Unkraut aus und schaufelte Kies zur Seite, hob den Deckel und blickte in ein schwarzes Loch, das keinen Geruch, dafür aber unzählige Erinnerungen verströmte. Ich stehe also vor der geöffneten Grube, in respektvollem Abstand, mache dann aber ein, zwei Schritte nach vorne, weil ich mich zugleich abgestoßen und angezogen fühle, starre auf die glänzende Schlacke, spüre die Gefahr, die von ihr ausgeht. Nach einem Moment des Zögerns nähere ich mich dem Loch bis auf wenige Schritte und recke den Kopf, um noch mehr sehen zu können. Dann höre ich, wie mich jemand ruft, und es ist meine Großmutter, die mich von dem Graben wegreißt, ins Haus trägt und dabei die Namen von mehreren Heiligen ausstößt. Sie setzt mich auf einen Stuhl, bekreuzigt sich und erzählt mir schließlich mit ihrer Märchenerzählstimme von einer wahren Begebenheit, von einem Jungen, der einmal hier ganz in der Nähe in eine Klärgrube gefallen und gestorben ist: Ertrunken sei er und niemand habe seine Hilferufe gehört, die in dem Erdloch erstickt seien wie Schreie in einem Sturm.

In was sich eine Erfahrung oder auch eine Erinnerung verwandelt, ist nie vorhersehbar. Für gewöhnlich dringen sie ja selten weiter vor als in die Lithosphäre der seelentektonischen Schichtungen, sie gehen also nicht unter die Haut, aber unter Umständen gelangt einmal eine tief und tiefer, ohne dass man es bemerkt, und sinkt schließlich in den Kern, trifft auf den GRUND und da können dann Reaktionen entstehen, Weltverwässerungen, die alles unterhöhlen. Ich blicke in einen Raum oder eine Landschaft oder ein Buch und jeder Blick fällt letztendlich auf mich selbst zurück, Spiegelblick, denke ich mir, und ich erkenne mich, ohne erkannt zu sein, und ich habe keine Fragen mehr, ich sage also: Keine weiteren Fragen. Selbstzweck ohne Sinn. Das Schweigen der Welt ist mein Mundsiegel und ich begreife meine Deutungsrohheit...

Die Welt klagt uns an und wir glauben, unsere Rechte zu kennen.