Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Ingrid Bertel · 11. Nov 2015 · Literatur

„Nur sterben wollte sie nicht wie Amy Winehouse“ - Monika Helfers neuer Roman „Die Welt der Unordnung“

Vom Pragmatismus und der Energie der Kinder erzählte Monika Helfer immer schon. Meistens waren ihre Kinder auf sich gestellt und ziemlich verwahrlost, ob in „Die wilden Kinder“ 1984 oder in „Oskar und Lilli“ 1994. In Helfers neuem Roman „Die Welt der Unordnung“ findet eine Schriftstellerin ein totes Baby im Geäst eines Baums.

Samira ist neun Jahre alt. Auf ihren Geburtstag freut sie sich unbändig. Ziemlich normal eigentlich. In Samiras Fall aber kommt diese Freude einem Wunder gleich. Alles im Leben des Mädchens spricht gegen frohe Erwartungen und einen neugierigen Blick in die Zukunft.

Inspektor Swini ist ein trauriger Mann. Immer möchte er helfen, immer ist es zu wenig. Das weiß er seit seiner Kindheit. Mit zehn Jahren hat er gesehen, wie ein Mädchen ertrank. Er hat nicht geholfen. Wenn er sich jetzt um einen Menschen besonders kümmern will, wird ihm der Fall entzogen. „Um ihn vor sich selbst zu schützen. Was immer das auch heißen mochte.“

„Mit Religion hat es nichts zu tun. Nur mit Denken.“


Inspektor Swini liest zur Beruhigung in der Bibel. Er träumt, dass sich die Gequälten mit den Häschern über ihre Schmerzen unterhalten. „Mir wurde bewusst, dass ich das Wort „Häscher“ im wachen Zustand noch nie gedacht hatte.“ Das ist Humor à la Monika Helfer. Ihre Sätze sind von allergrößter Schlichtheit, ihre Fähigkeit, Bilder für eine psychische Spannungslage zu finden, ist von allergrößter Feinheit und Präzision. Und zwischen den Szenen ihrer Geschichte reißt bisweilen eine lakonische Bemerkung wie die über das Wort ,Häscher' eine Stille auf, in der wir nachzudenken beginnen. Das ist es, was Literatur im besten Fall kann: einen Denkprozess anstoßen.

„Lukas, 7,32 - „Sie sind wie Kinder, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte gespielt und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen und ihr habt nicht geweint.“

Inspektor Swini liest solche Bibeltexte, seit ihm seine Nachbarin Elvira den Tipp gegeben hat. „Mit Religion hat es nichts zu tun. Nur mit Denken“, sagt sie. Und Swini findet, so kann man Religion aushalten.

„Wer nennt sein Kind Cain?“


Die Bibeltexte nämlich sind eine exakte Beschreibung des Falles, in dem Swini ermittelt. Und der erinnert an das, was an Grauen in unserem Alltag möglich ist, zum Beispiel an den Fall Cain. Der Dreijährige war im Jänner 2011 vom Lebensgefährten seiner Mutter zu Tode geprügelt worden. Der Schrecken über diese Tat – und all das Furchtbare, das ihr vorangegangen war, hallte durch eine Frage, die der Schriftsteller Cees Nooteboom stellte: „Wer nennt sein Kind Cain? Das ist nur denkbar, wenn ein Name nicht mehr bedeutet, was er einst bedeutete, wenn das Böse, das an diesem Namen klebte, als Bedeutung aus der Zeit gefallen ist. Und das Böse selbst?“ Es ist immer und überall zugegen – und davon erzählt Monika Helfer.

Poppele ist tot, Samiras zehn Wochen alter Bruder. Das namenlose Baby war heroinabhängig, weil seine Mutter Mirjam es war. Da es in seiner Qual ununterbrochen schreit und wimmert, schickt Mirjam Samira an ihrem hoffnungsfroh erwarteten Geburtstag zum Spazierengehen mit dem Baby. Samira und „Hund“, ein Pitbull, sind für Poppele zuständig. Wenn sich einer ihrer Freunde um das Kleine sorgt, mault sie, „warum sich alle nur um das Kleine kümmern und keiner um sie, wo doch jeder weiß, dass ein Kind keine echten Probleme hat.“

Bisweilen träufelt Mirjam etwas von ihrem Methadon Poppele in den Mund. Zum Arzt geht sie nicht mit ihm. Dabei ist der Vater von Poppele Arzt, allerdings einer, der sich um sein Kind überhaupt nicht kümmert. Das ist so Samiras Alltag. Und Mirjam tut ihr auch ihre Drogen-Euphorie an, besteht darauf, sich vor dem Kind eine Spritze zu setzen, schwärmt vom „Stechen“, trinkt Rotwein mit der Neunjährigen. Wie Samira innerlich zerrissen wird, das deutet Monika Helfer in ausgesprochen zurückhaltend formulierten Szenen an und zwingt damit uns LeserInnen die empathielose Gier der Mutter, die Verlorenheit der Tochter, den Schmerz des Babys selbst zu imaginieren.

„Wenn ich etwas kann, was kann das schon wert sein?“


Mirjam kann wunderbar singen. Wie die Callas, findet Jochum, der Arzt und Vater von Poppele. „Wenn sie sang, dachte er, so singen kann man nur, wenn man auch intelligent ist.“ Mirjam selbst hält nicht viel von ihrer Musikalität. „Wenn ich etwas kann, was kann das schon wert sein.“ Das ist ein furchtbarer Satz. Er erhellt wie ein Blitz den Grund für Mirjams Drogensucht, den Abgrund ihrer Selbstverachtung. Und wer sich selbst so brutal behandelt, wie soll der ein Empfinden für die eigenen Kinder haben?

Jemand sagt Mirjam, sie singe wie Amy Winhouse – und darüber freut sie sich wirklich. „Von da an wollte sie aussehen wie Amy Winehouse. Viel Schminke im Gesicht. Sie wollte riechen wie Amy Winehouse. Sie wollte sein wie Amy Winehouse. Nur sterben wollte sie nicht wie Amy Winehouse.“

„Wir sind eben keine Millionäre“


Mirjam hat einen einigermaßen problematischen Beschützer, ihren Bruder Wolf, einen Dealer. Stets tritt er flankiert von den Zwillingsbrüdern Karl und Otmar auf – er nennt sie Orang und Utan, seine Halbaffen. Der Mutter dieser beiden verspricht er: „Ich mach aus ihren Söhnen etwas, Frau Spirig, darauf können Sie sich verlassen. Es braucht Zeit, und Leute wie wir müssen eben Umwege gehen. Wir sind eben keine Millionäre, Frau Spirig. Aber es wird schon, es wird.“

Man kann sich vorstellen, was wird. Es ist nicht weniger traurig, als das, was aus Mirjam wird, aus Samira und aus Poppele. Monika Helfer findet einen ihrer makellosen Sätze, um auch dieses Leid auszuleuchten: „Es war einmal ein Mann, der hieß Karl Spirig. Er liebte alle Menschen, die ihm nichts Böses tun wollten. Mit Gutem rechnete er nicht.“

Nach dem Tod von Poppele meldet sich Karl Spirig bei der Polizei und sagt, er habe das Kind getötet, weil es so viel geschrien habe. Inspektor Swini glaubt ihm nicht. Er glaubt auch Samira nicht. Er wird jemanden für schuldig erklären müssen. Er wird darunter leiden, dass ein Mord nicht vergeben wird. Aber es sind nicht die Menschen, die dazu unfähig sind. Swini nennt den Grund – und es ist einmal mehr ein ebenso unscheinbarer wie schrecklicher Satz, der Monika Helfer reicht: „Weil wir Computer haben.“ Denn das Denken und Empfinden von Menschen kann sich ändern und das Entsetzen mildern. Der Computer aber vergibt nicht. Er reproduziert nur immer das Gleiche.

 

Monika Helfer, Die Welt der Unordnung, Gebunden, € 18,90, ISBN 978-3-99027-073-8, Jung&Jung, 2015