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Ingrid Bertel · 23. Okt 2013 · Literatur

„Lillys Weg“ – Renate E. Daimler erzählt in ihrem Roman-Debüt, wie sie die Jahre als „Mitgehangene“ erlebte

Am 23. Jänner 1977 sank der Frachter „Lucona“ binnen zwei Minuten im Indischen Ozean nördlich der Malediven. Er explodierte durch einen Zeitzünder, wie ihn das österreichische Bundesheer damals verwendete. Sechs der zwölf Besatzungsmitglieder ertranken. Die Aufklärung des Verbrechens zog sich über mehr als ein Jahrzehnt hin. In ihrem Roman „Lillys Weg“ erzählt die gebürtige Bregenzerin Renate E. Daimler, wie sie die Jahre als „Mitgehangene“ erlebte. Den leuchtend positiven Hintergrund vor dem Sittengemälde gibt dabei der Bregenzerwald ab.

„Sogleich scharte sich eine Elite von Verteidigern um den Beschuldigten, obwohl der nach eigenen Angaben kein Geld hat, dessen Frau Renate, früher Stewardess, jetzt Schriftstellerin, für die gemeinsamen Kinder sorgen muss und sich dazu mit Informationen gegen Bares emsig um günstige Geschichten für den Gatten müht – was aber bisher auch nicht viel abwarf.“ Eine Notiz aus dem „Spiegel“ am 13. 7. 1992
Der Beschuldigte heißt Hans Peter Daimler, ist Spross der berühmten Autobauer-Industrie und war Geschäftspartner des schrillen Udo Proksch. Die Anklage vor dem Kieler Landgericht lautet auf Beihilfe zum Mord und Mordversuch in sechs Fällen. Daimler wird zu 14 Jahren Haft verurteilt.

In Wien hatte der Fall „Lucona“ für ein politisches Erdbeben gesorgt. Nationalratspräsident Leopold Gratz musste zurücktreten ebenso wie Innenminister Karl Blecha, ein Gerichtspräsident wurde verurteilt und Verteidigungsminister Karl Lütgendorf war tot. „Die Selbstmordtheorie ist mehr als fadenscheinig“, heißt es im Roman. „Wer schießt sich schon freiwillig in den geschlossenen Mund und hält die Waffe als Rechtshänder in der linken Hand.“ Der Fall „Lucona“ machte etwas sichtbar, das alle Dimensionen sprengte: politische Kriminalität als brutale Mordsache.
Um es vorwegzunehmen: Die politische Dimension des „Lucona“-Skandals wird im Roman von Renate E. Daimler zu hundert Prozent ausgeblendet, die verbrecherische spielt eine untergeordnete Rolle. Es geht um Beziehungen, um Erotik und (blinde) Loyalität.

„Finger weg, einsamer Wolf, beziehungsunfähig“


Die Heldin heißt Lilly, ist Journalistin und hat zusammen mit ihrem Freund Ralf die Zeitschrift „Psychologie Morgen“ gegründet. Lillys Spezialität sind Themen rund um die weibliche Erotik. Ihre katholisch geprägte Kindheit im Bregenzerwald schüttelt sie mittels einer Affaire mit dem animalischen Paolo Vicente ab. Der ist unschwer als Udo Proksch identifizierbar. Der war zwar alles andere als ein Adonis, scheint aber mit seinem breitgefächerten Charme auf Frauen ebenso unwiderstehlich gewirkt zu haben wie auf Politiker. Paolo Vicente indes reicht Lilly ziemlich schnell weiter an seinen Kompagnon Oskar Baldini. Ort des Geschehens: die Hofkonditorei Demel. Lilly ahnt, wen sie da vor sich hat. „Sie beschäftigte sich mit der Erkenntnis, dass Männer, die den Platz von tatsächlich oder emotional abwesenden Partnern einnehmen, als Spätfolge meistens Bindungsschwierigkeiten haben.“ Über Muttersöhne zu schreiben schützt aber nicht vor der Verliebtheit in einen. Entgegen allen Warnungen heiratet Lilly Oskar – und steht schon bei der Hochzeit ganz alleine im Winkerl. Der Frischvermählte bricht auch umgehend mit seiner Ex-Verlobten in den Urlaub auf. Lilly macht die Augen fest zu, auch noch, als Ralf ihr Oskars undurchsichtige Geschäfte aufzählt.

„Eine Riesenscheiße“


An einem Abend im Demel nützen die Verdrängungskünste nichts mehr. Oskar und Paolo sprechen über ein Schiff, „und dass die Versicherung sich nun endgültig entschieden habe, nicht zu bezahlen, und einen Strafprozess anstreben wolle. „Was für ein Schiff?“, fragte Lilly. „Das erkläre ich dir später, die Esmeralda ist im Indischen Ozean gesunken, und glaube mir, es ist eine Riesenscheiße, dass sie untergegangen ist!“
Diesen Satz hält Lilly jahrelang für den Beweis von Oskars Unschuld. Was sollen wir von einer Journalistin halten, die niemals nachfragt, die keine Zeitungen liest, und ihrem Mann alles glaubt, obwohl er rundum als „Windhund“ gilt? Und was von einer auf psychologische Erkenntnisse spezialisierten Frau, die blind bleibt für das seltsame Gebaren dieses Mannes, gefühllos für ihren eigenen Körper, trotz der Hautausschläge, trotz eines Zusammenbruchs?

„Und plötzlich war der Bregenzerwald da.“


Lilly flüchtet in die Natur, am liebsten auf die Kanisfluh, diesen „Berg, der als tröstender Klotz in ihrem Leben stand, wie eine Konstante, die ihr Sicherheit gab.“ Sie legt sich in Wiesen, umarmt Bäume, wandert mit Freundinnen zu den „Feenplätzen“ auf dem Hirschberg und identifiziert sich mit den Wälderinnen, die während der Schwedenkriege mit Mistgabeln und Sensen den Soldaten entgegen stürmten. Moralische Fragen stellen sich ihr ausschließlich als Beziehungsfragen. Dabei werden die Fakten kaum verschlüsselt.

Hans Peter Daimler hatte zusammen mit Udo Proksch die „Lucona“ versenkt, um von der Bundesländer-Versicherung (Vorgängerin der heutigen Uniqa) die Summe von 212 Millionen Schilling zu kassieren. Angeblich hatte sich eine Uranerzanlage auf dem Frachter befunden; in Wirklichkeit handelte es sich um Schrott aus dem aufgelassenen Kohlebergwerk in Oberhöflein/Niederösterreich. Daimler räumte vor Gericht ein, er habe Dokumente gefälscht. Daran hatte sich auch das Außenministerium beteiligt, indem es Pläne und Zeichnungen von der famosen „Uranerzanlage“ aus Rumänien nach Österreich beförderte. Die Versicherung wehrte sich; Proksch tauchte unter und Daimler, deutscher Staatsbürger, suchte – so „Der Spiegel“ - „in der alten Heimat Schutz, deren Behörden nicht auslieferten, sondern sich entschlossen, selber Recht zu sprechen, nachdem der überlebende Lucona-Kapitän Jacob Puister den Proksch-Kumpanen Daimler auch in Deutschland wegen Mordverdachts angezeigt hatte.“ Udo Proksch wird 1992 zu lebenslanger, Hans Peter Daimler zu 14 Jahren Haft verurteilt.

„Different thoughts are good for me“


Woher kommt Lillys ebenso ahnungs- wie bedingungslose Loyalität zu Oskar? Den Kindern Lea und Niklas möchte sie ein reines Bild ihres Vaters bewahren. Aber die heimlichen Treffen mit dem flüchtigen Oskar haben auch den Kick des Abenteuers; dazu kommt eine trotzige Abwehr der Realität, Flucht in eine Traumwelt, zu Songs von Tanita Tikaram, in eine esoterisch angehauchte weibliche Community in Israel. „… sie hatte ihren Spezialfilter, der ihr erlaubte, eigene Kategorien zu erschaffen: Die Zeugen waren unglaubwürdig, der Staatsanwalt polemisch, der Richter ungerecht und die Schöffen von den Medien unzulässig beeinflusst. Oskar war das Opfer einer riesengroßen Verschwörung und saß zu Unrecht im Gefängnis. Das glaubten auch ihre Kinder, und es war bisher gut so für Lilly gewesen. Es war ihre gewohnte Spur.“

Als die Bandagen härter werden, versucht sie die Kinder vor der medialen Berichterstattung – in die sie selber aus Naivität geraten ist – zu schützen und Distanz zur eigenen Rolle als Journalistin aufzubauen. „ Jetzt gehöre ich zu den Menschen, die auf der anderen Seite leben.“ Kanisfluh und Naturwesen sind eben nicht geeignet, moralischen Halt zu geben. Die trübe Seite des Feminismus, das ist die Flucht ins Private. Lilly ist diesen Weg lange, viel zu lange gegangen. Nach Jahrzehnten erst stellt sie sich den Fakten. „Sie schämte sich. Sie hatte sich wie eine Idiotin benommen. Alle Fakten ignoriert.“

 

Renate E. Daimler, Lillys Weg, 480 Seiten, ISBN 987-3-85300-004-5, Verlag Lessingstrasse 6, Salzburg 2013