Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Niedermair · 04. Mai 2017 · Gesellschaft

Tage der Utopie, 4. Tag, Donnerstag, 27. April 2017 - Visionsaufstellungen - Verkörperung von Utopien und Projekten

Neben den klassischen Begegnungen in Arbogast bieten die Veranstalter der Tage der Utopie auch diesmal wieder zusätzliche Formate mit innovativen Zugängen zum Thema an. Mit systemischer Aufstellungsarbeit lassen sich Ideen und Initiativen gut konkretisieren und vorantreiben. Oft entdecken jene, die sich in diese sehr konkrete methodische Auseinandersetzung mit den gerade aktuellen gesellschaftlichen und auch persönlichen Fragen einlassen, wie bisher ungenutzte Ressourcen sichtbar werden, Widerstände und mögliche Hindernisse bewusst gemacht und verwandelt werden. Im Kontext des Aufstellens gesellschaftspolitischer Fragestellungen sind hier in Arbogast bereits eine ganze Reihe visionärer Projekte auf den Weg gekommen. Aufstellungen funktionieren ganz im Sinne dieser grundsätzlichen Erfahrung an diesen Tage der Utopie, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich in die gemeinsame Reflexion einlassen und wie in einem Inkubator ausprobieren, wie Ideen, Visionen, Utopien, das scheinbar Unmögliche auf den Weg kommen.

Oh Albatross, my Albatross …

Die permanent existente axiomatische Fragestellung lautet demnach, wie kann frau/mann Projekte mit starker Energie ausstatten, wie sie befeuern und beflügeln. Natürlich kann man das nicht alleine machen, außer man wäre Superwoman oder Superman. Laurie Anderson, Partnerin von Lou Reed, dem Gründer der legendären Velvet Underground, singt in ihrem Song „O Superman“ (1982 auf Big Science veröffentlicht) „Hi. I'm not home right now. But if you want to leave a message, just start talking at the sound of the tone“ von den entfremdeten Beziehungen und der veräußerten Kommunikation. Und wer weiß es schon, vielleicht gibt es solche „Lonesome Fighters“, die sich Albatross-breite, weite Flügel für stundenlange Überquerungen, sozusagen im Autopilot, wachsen lassen können. Doch in der Regel kommen gute Projekte als visionäre Utopien durch gemeinsames Reflektieren und Anschieben in Bewegung. Oder, wie es der Kleine Bär und der Kleine Tiger auf ihrer Reise nach Panama machen, sie kreieren sich ihre Wegbeschilderung selbst, indem sie die Bananenkiste mit dem Aufdruck „Panama“ zerlegen, den Namen auf einem Pfosten in den Boden stecken und sich selbst die Richtung geben. Das steuernde GPS existiert in uns selbst, es ist keine Maschine, die dazu noch mit einer imitierten Stimme zu uns spräche. Es ist die innere Sehnsucht nach einem vielseitigen, abwechslungsreichen Weg und einem schönen Ziel, ein Ort, an dem wir achtsam miteinander umgehen. Was es für gelingende Projekte an Ausstattung braucht, lässt sich auf verblüffend einfache Weise in solchen Aufstellungen herausfinden. Einen Hut, eine Tiger-Duck und eine konstruktive, verlässliche sowie vertrauenswürdige Freundschaft. Diesmal waren zwei sehr bekannte Workshopleiter in Arbogast, die bereits an früheren Tagen der Utopie teilnahmen.

Siegfried Essen und Herbert Salzmann                                                                                          


Siegfried Essen, Psychologe und Theologe, ist einer der herausragenden systemischen Therapeuten, der seit vielen Jahren mit philosophischen, politischen und spirituellen Aufstellungen arbeitet. Mit Siegfried Essen und Herbert Salzmann wurden an jeweils drei aufeinander folgenden Vormittagen, Donnerstag, 27., Freitag, 28. Und Samstag, 29. April, Halbtagesworkshops angeboten. Bei Herbert Salzmann wurde dabei auf das Thema „Einmal Utopia hin und zurück. Entwurf meiner persönlichen Vision“ fokussiert. Herbert Salzmann war Sprecher auf den Tagen der Utopie 2009. Als Organisationsentwickler ist er Gesellschafter der Unternehmensberatergruppe Trigon. Der gebürtige Vorarlberger lebt in Innsbruck, absolvierte Lehre und Abendgymnasium sowie geistes- und sozialwissenschaftliche Studien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Transformation von Führungskulturen, dem Coaching von Führungskräften sowie der Gestaltung lernender Organisationen. In seinen Vormittagsworkshops machen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Suche nach ihrem jeweils eigenen Zukunftsbild. Inspiriert von Claus Otto Scharmers „Theory U“ und den Entwicklungsstrategien von Trigon errichtet Herbert Salzmann ein lebendiges Labor für die Beschäftigung mit persönlichen Utopien, Zielen und Wegen.

Das Interesse am Thema und an der Methode


In der systemischen Aufstellungsarbeit erweisen sich politische Systeme unter dem Fokus gesellschaftspolitischer Fragestellungen nicht als abgegrenztes Ganzes. Sie können daher - im Unterschied etwa zu anderen Aufstellungsarbeiten - als Methode aus der systemischen Therapie, wie Strukturaufstellungen für Organisationen, Betriebe, Institutionen oder Familien, auch nicht direkte Lösungen bzw. Lösungsmöglichkeiten durch Stellen, Testen und Korrigieren anbieten. Die Aufstellungsarbeit politischer Systeme und gesellschaftlicher Konstellationen kann - durch den Fokus auf gegenwärtige und historische Formate - einen Prozess des produktiven Aneignens von Geschichte in Gang bringen, mit einen Beitrag leisten, ein anamnetisches Geschichtsverständnis zu erzeugen und Wirkmächte des Vergangenen im Jetzt hypothetisch zu benennen, ein Bewusstsein für Zugänge zur Gegenwart zu schaffen sowie Impulse für Suchbewegungen und zukünftige Entwürfe zu geben.

Das aktuell zentrale politische Thema: Europa


Was kümmert uns die gemeinsame Zukunft in einem Europa, das in seinen politischen Strukturen in den letzten Jahren mehr und mehr zusammengewachsen ist und jetzt in diesen Tagen aufgrund politischer Kriegskonstellationen, wie jene in Syrien und Afghanistan, um jetzt vorläufig einmal zwei komplexe Schauplätze zu nennen, die Menschen zu Hunderttausenden zur Flucht zwingen. Tragischerweise schaffen es die verantwortlichen politischen Entscheidungsträger in den Ländern der Europäischen Union entlang ihrer Zivilgesellschaften nicht ausreichend genug bzw. unzureichend, auch wenn es sehr viele passable Modelle und gelingende Projekte der Begegnung auf Augenhöhe gibt, die eine zivilisatorisch angemessene und auf den Prinzipien der universellen Menschenrechten basierende Form einer politischen Utopie realisieren. Diesen gegenüber stehen nationalistische Bewegungen in einzelnen Ländern, die einen starken Zulauf von Wählerinnen und Wählern aufweisen, die in den Fliehenden und Asylsuchenden nur selten Menschen sondern Bedrohungen sehen und deshalb Zäune und Wälle aufbauen, um sie draußen zu halten. Am Dienstagabend konnten wir im Gespräch zwischen der Schriftstellerin und Integrationsexpertin Jagoda Marinić mit der Ö1 Redakteurin Renata Schmidtkunz über die Frage nachdenken und diskutieren, wie wir es schaffen könnten, den Flüchtlingen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Frau Marinić leitet seit 2012 das „Interkulturelle Zentrum“ in Heidelberg, ein Welcome-Center für Neu-Heidelberger mit integrierter Ausländerbehörde, aber auch mit einem speziellen Kulturprogramm.

Sollten wir diesem „Europa eine Seele geben“?


Auf welchem Fundament bauen wir? Welche gemeinsame Geschichte wäre in diesem Europa enthalten und wie könnten wir uns dieser Geschichte bewusst werden? Deren Anfänge datieren bedeutend weiter zurück, als es etwa Politiker normalerweise tun: Nicht auf die von Staatsmännern wie Stresemann und Briand, Schuman und Adenauer geprägten Aufbruchszeiten nach den beiden Weltkriegen und nicht auf die Französische Revolution oder das Reich Karls des Großen, sondern auf das sechste Jahrhundert vor unserer Zeit, den Vorabend der griechischen Klassik. Schon Hegel sprach vom europäischen Geist“, der „in Griechenland seine Jugend zugebracht“ hat (Vgl. der Althistoriker Christian Meier, Ein Europa aus dem Geist der Antike. Symposium „Antike und Gegenwart“, Berlin 2000.).

Name und Mythos


Europa verdankt seinen Namen einem kleinasiatischen Mädchen, deren Geschichte in der griechischen Mythologie erzählt wird. Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor und seiner Frau Telephassa, eine phönizische Prinzessin also. Ihre Geschichte beginnt mit einem Traum. In Europas Traum behauptete Asien, weil Europa in Asien geboren sei, gehöre sie zu Asien. Der andere Kontinent, der namenlos war, sagte, es sei völlig unbedeutend, wo Europa geboren sei. Jupiter werde Europa auf diesen namenlosen Kontinent bringen (Vgl. Manfred Schlapp, Reelle und virtuelle Stiere. Rückblick auf eine Zeit, als noch Götter unter den Menschen wandelten, 1999).

Eines Morgens machte sich Europa mit ihren Freundinnen auf den Weg ans Meer, um am Strand Blumen zu pflücken. Jupiter bemerkte die Mädchen, von Europa und deren Schönheit war er besonders angetan, sie war die Schönste unter den Mädchen. Jupiter verkleidete sich als weißer Stier. Er selbst war schön, duftete nach Blumen und muhte mit begehrenswerter Stimme. Die Mädchen näherten sich ihm und streichelten ihn. Dieser legte sich vor Europa zu Füßen, sie bestieg seinen Rücken und erwartete sich vielleicht einen angenehmen Ritt. Dieser jedoch erhob sich ganz plötzlich, sprang ins Meer und schwamm vom Ufer weg. Diese Szene ist das Thema in zahlreichen Gemälden. Bekannt ist Titians Gemälde „Der Raub der Europa“ aus der italienischen Renaissance im 16. Jahrhundert. Mir persönlich gefällt am besten die Version von Fernando Botero „El Rapto de Europa“ aus 1932. Die beiden wurden von einer Götterschar begleitet, woraufhin Europa bald bemerkte, dass Jupiter ein Gott sein müsse. Jupiter eröffnete Europa, wie sehr er sie liebe und dass er sie nach Kreta bringen werde. Nach der Ankunft in Kreta verwandelte sich Jupiter in seine ursprüngliche Gestalt, die Form des Stiers warf er an den Himmel, wo er als Sternenkonstellation des Taurus auftauchte. Jupiter prophezeite Europa, dass sie ihm viele berühmte Söhne gebären werde, einer unter ihnen war Minos, der legendäre Vorfahre der minoischen, der ersten europäischen Zivilisation überhaupt. Wahrscheinlich war es Karl der Große, der den Kontinent erobert hatte, der dem namenlosen Kontinent den Namen Europa gab.

Kulturgeschichte


Die romantische Geschichte von der phönizischen Prinzessin und ihrem göttlichen Entführer ist eine Sage, die in ihrem Kern ein Stück Kulturgeschichte aufbewahrt. Aus dem lokalen Liebesabenteuer von einst ist heute ein globales politisches Ereignis entstanden. Mit dieser Entführung der Europa aus Tyros, der damaligen Hauptstadt der Phönizier, raubt der Eindringling in der Maske eines Stiers nicht nur die kostbarste Blüte dieser Stadt, er exportiert im Zeichen des Stiers ein phönizisches Kulturgut aus dem „Morgenland“ in Richtung „Abendland“, die Buchstabenschrift, das Alphabet. In dieser Schrift sind die Sprachen und die Literatur der europäischen Völker über die Jahrtausende hinweg verfasst und überliefert worden. Die ersten Buchstaben dieses Alphabets nehmen ihren Ausgang im Sinai, der Landbrücke zwischen Ägypten und Palästina. Es waren semitische Nomaden, die der Nachwelt auf dem Sinai die ältesten Zeugnisse der Buchstabenschrift hinterlassen haben. Sie schufen neue Symbole, in denen Lebewesen und Gegenstände des täglichen Lebens wiedererkennbar sind.

Das Verkörpern von Utopien – Ein Ausblick

 

Im Rahmen des für den Workshop bei Siegfried Essen auf den Kern reduzierten verknappten Themas _„Was befördert und was behindert Utopien?“_ bearbeiten die TeilnehmerInnen eine Reihe individueller Fragestellungen, die in den Energiesystemen zwischen Antrieb und Hemmung zu verorten wären. In Kleingruppen zu dritt werden diese Fragen aufgestellt und danach recht zügig reflektiert. Das Angenehme und Produktive dieser Kleingruppen ergibt sich aus der relativen Klarheit, wie eine solche Aufstellung verläuft, weil sie den Teilnehmenden das Höchstmaß an persönlicher Autonomie garantiert und weil die Personen sehr achtsam miteinander umgehen. Die Vielfalt der aufgestellten Fragen lässt sich grundsätzlich in zwei Hauptbereiche zusammenfassen: „Wollen wir ein Europa der Einheit und Vielfalt?“ … also eine „Allianz der Vielfalt“, von der wir am Dienstagabend dieser Woche von der Integrationsexpertin Jagoda Marinić hörten, oder wollen wir unseren Kontinent als „Festung Europa, in der Fremdenhass und Rassismus die Leitmotive des Lebens sind?“
 
Für mich hat sich herauskristallisiert, dass ich für das Arbeiten an Projekten unabdingbar eine Grundausstattung brauche, nicht im Sinne eines Medienkoffers, sondern in Form von Wegbegleitern und Critical Friends, die mit sprachlicher Sensibilität und wechselseitigem Respekt miteinander umgehen, die Zukunft unter eine Appreciative Inquiry (wertschätzende Befragung) stellen, die sich daran orientieren, wie denn dieses zukünftige Szenario aussehen solle, wie man es sich wünscht … und eben nicht in der technokratischen maschinensprachlichen Welt verharrt, ganz so als begebe man sich in eine Werkstätte, wie man sein Auto dorthin bringt, um es reparieren zu lassen. Umsteigen wäre das Ziel.  

Magic Dream Boat


Gesellschaftspolitische Aufstellungen sind ein instruktives und geeignetes Instrument, gesellschaftlich-politischen Fragen „aufklärend“ nachzuspüren, um zu einem Common Ground im Sinne der wertschätzenden Befragung der Vergangenheit und der Entwicklung von Zukünften zu gelangen. Auffallend war, dass niemand von halbvollen oder halbleeren Gläsern gesprochen hat. Diese Bilder sind nicht im Sprachrepertoire der Tage der Utopie. Die TeilnehmerInnen schöpfen vielmehr Mut und Energie. Es liegt, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, ein Zauber über den Begegnungen während dieser Arbogaster Tage. Es ist, als wäre man ein paar Stunden in einem Magic Dream Boat herumgesegelt, hätte sich mit emotionalen und intellektuellen Kostbarkeiten befrachtet und wäre jetzt, dank günstiger Winde, in einen Hafen gesteuert, den man eigentlich eh anfahren wollte.