Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Gunnar Landsgesell · 11. Dez 2014 · Film

Mommy

Ein verhaltensauffälliger Junge, den selbst die Erziehungsanstalt wieder ausspruckt, führt mit seiner Mutter ein wildes Leben. Regisseur Xavier Dolan zeigt das in einem ebenso wilden Bilderstrom und erhielt dafür den Großen Preis der Jury in Cannes.

Wie Steve (Antoine-Olivier Pilon) seine Mutter (Anne Dorval) bei einer spontanen Tanzeinlage in der Küche berührt, ist das, was man eine Grenzüberschreitung nennt. Er streicht über ihren Körper, sie wehrt lächelnd ab. Würde man Bilder wie diese isoliert betrachten, man wäre garantiert auf dem falschen Dampfer, wenn es darum ginge, den Film thematisch zuzuordnen. „Mommy“, das jüngste Werk des franko-kanadischen „Regie-Wunderkinds“ Xaver Dolan, ist ein Film, der geradezu methodisch mit der Grenzüberschreitung arbeitet, sich dabei aber nie dingfest machen lassen möchte. Der Inhalt scheint so reduziert worden zu sein, um durch eine lästige Handlung nichts von der dramaturgischen Spontanität, der schauspielerischen Physis und der visuellen Maßlosigkeit, mit der „Mommy“ einen überrollt, zu verlieren. Es geht um den jungen Steve, der verhaltensauffällig ist und in überbordender Emotion sowohl zu Gewalt wie auch distanzlosen Liebesbekundungen neigt. Seine Mutter Diane, eine Witwe in Pumps und engen Jeans in der kanadischen Provinz Quebec, hat ihn aus Überforderung in ein Erziehungsheim gesteckt. Und nun holt sie ihn wieder ab. Dolan zeigt eine Koexistenz, die vor allem von Intensitäten geprägt ist. Mal schwelgerisch, mal knochenhart entwirft er Bilder, in denen alles passieren kann, in denen das Leben eigentlich schon außer Kontrolle ist. Fast manisch betreibt Dolan sein Spiel mit diesen beiden Figuren, um Mutter und Sohn jeder konventionellen Darstellung zu entreißen. Schon bald stellt er noch eine dritte dazu: eine verlegene Nachbarin (Suzanne Clement), eigentlich Lehrerin, die mit dem wilden Duo einen Ausbruch aus der eigenen beengten Familie erlebt. Die impulsive und stückhafte Weltwahrnehmung von Steve bestimmt ganz den Tonfall des Erzählens. Die beiden älteren Frauen, seine Mutter Diana und die Nachbarin Kyle, zwischen denen Steve nun lebt, vermögen dem nur fallweise etwas entgegenzuhalten.

Zu Beginn nervt diese ungestüme visuelle Semantik, vor allem auch, weil man das Gefühl hat, dass damit ein Regisseur seine eigene Verwegenheit mit abfeiert. Doch „Mommy“ findet zu seinem eigenen Rhythmus, in dem die drei Akteure immer wieder Nischen des Persönlichen, des Intimen finden. Irgendwann ist auch vergessen, dass Dolan ein 1:1 Bildformat gewählt hat. Das entspricht einem Quadrat, aber auf der Leinwand wirkt es so, als wäre das Bild sogar noch höher als breit. Das beengte Sichtfeld, das sich daraus ergibt, ist eine Entscheidung, die man akzeptieren kann. Der Kontrast zur Entgrenzung der Dramaturgie ist offensichtlich. „Mommy“ ist als Experiment, als Rausch, und natürlich als (Selbst)Entäußerung (Dolans) angelegt. Sich mittreiben zu lassen, oder „Mommy“ als overkill der Reize zu empfinden – beides ist möglich.