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Gunnar Landsgesell · 05. Jul 2017 · Film

Life, Animated

Ein Bub, der an Autismus erkrankt und verstummt und sich nach Jahren plötzlich wieder mit einem Filmzitat aus Disney zu Wort meldet. Seither ist die Märchenwelt bevorzugtes Kommunikationsmittel von Owen Suskind. Berührender Dokumentarfilm, der nur durch die Welt der Märchen seine Hauptfigur erreichen kann.

Für diese Geschichte kann der Regisseur nichts, denn sie ist so rührend, dass sie einem kitschigen Drehbuch entstammen könnte: Ein kleiner Bub, der nach einer normalen Entwicklung das Reden einstellt und jahrelang in eine Welt abtaucht, von der die besorgten Eltern nichts wissen. Autismus, so lautete die Diagnose eines Arztes, und die Eltern müssen sich damit abfinden, dass ihr Kind vielleicht nie wieder sprechen kann. Jahre später presst Owen plötzlich ein Wort hervor, das wie "Juicervose" oder so ähnlich klingt. Die perplexen Eltern glauben, der Kleine will einen Juice. Doch Owen wiederholte eine Stimme aus „The Little Mermaid“, dem Disney-Film, den der Bub vielfach gesehen hat. Darin gibt die kleine Meerjungfrau ihre Stimme und wird dafür zu einem Menschen. "Just a voice" – nur eine Stimme, das waren Worte, die der fünfjährige Owen nun repitierte. Ron Suskind, Vater und Pulitzer-Preisträger und nebenbei ein glänzender Erzähler, reflektiert das im Film: Kann es Zufall sein, dass Owen sich mit genau diesen Worten wieder zurückmeldete?

Rührend und rätselhaft

„Life, Animated“ ist ein faszinierender und durchwegs gegen die Erwartungen gebürsteter Film, der keine Autopsie einer Krankheit liefern möchte, sondern tief in eine Welt abtaucht, in der die Erzählungen Disneys auf wundersame Weise in der Psyche von Owen Suskind intervenieren. Regisseur Roger Ross Williams erkundet in seinem Dokumentarfilm eine ganz spezielle Familienkonstellation. Der autistische Owen, aufgewachsen in Cape Cod, Massachussetts, sicherlich privilegiert und gefördert durch das Elternhaus, hat sich anhand seiner Lieblingsfiguren aus der Fantasywelt einen eigenen Kommunikationskompass zusammengestellt. Er liebt es, auf Alltagssituationen mit filmischen Zitaten zu antworten und seine eigenen Emotionen durch die Figuren sprechen zu lassen. Williams weiß über die Potenziale dieser wunderlichen Geschichte natürlich bestens Bescheid, dementsprechend setzt er seine Bilder auch ein: der eloquente Vater, der ganz in der Rolle des Journalisten auf brillante Weise den MC für den Sohn gibt; die Mutter, deren Sorge einen berührt; und Owen selbst, der in der Schule eine Gruppe von Filmfans gegründet hat und nun in einem prekären Schritt als Erwachsener aus dem elterlichen Haus ausziehen soll. Dazwischen lässt Williams in kurzen Momenten eine Ahnung von den Schwierigkeiten aufkommen, die so eine Erkrankung für alle Beteiligten bedeutet. Dennoch bleibt „Life, Animated“ immer auch etwas rätselhaft, weil dessen Hauptfigur sich für dieses moderne Märchen nicht einfach so inszenieren lässt. Es ist der gleiche 23-jährige Owen, bei dem Lehrer und Eltern Sorgen haben, ob er den Schulweg allein unbeschadet absolviert, weil er seinen Kopf – versponnen in Gedanken – immer gebeugt zu Boden hält. Zugleich ist dieser Owen so selbstreflektiert, dass er ein Heft gestaltet hat, in dem er eine lange Reihe von Figuren aus Aladdin, Mermaid, Peter Pan und den anderen Animationsfilmen gezeichnet hat. Das seien aber nicht die Hauptfiguren, sagt Owen, sondern die aus der zweiten Reihe, die nie Helden werden. Ihnen wollte er dieses Heft widmen. Wie Owens Leben ohne die Rückzugswelt von Disney aussehen würde, aber auch ohne seine fürsorglichen Eltern und seinen Bruder, das sprengt freilich den Horizont dieses Films.