Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Walter Gasperi · 21. Aug 2013 · Film

Feuchtgebiete

Charlotte Roches 2,5 Millionen mal verkaufter Bestseller galt als unverfilmbar. David Wnendt hat es trotzdem gewagt und aus dem Skandalroman eine poppige Coming-of-Age-Komödie gemacht, in der unappetitliche Szenen nicht fehlen, die aber im Kern von der Sehnsucht der jungen Helen nach einer heilen Familie erzählt.

David Wnendt, der mit seinem Neonazidrama "Kriegerin" für Aufsehen sorgte, macht schon in der Eröffnungsszene klar, was den Zuschauer in den folgenden 110 Minuten erwarten wird: Nur das Skateboard der jungen Helen (Carla Juri) sieht man, während sie im Voice-over über ihre Vorliebe für Körpersäfte, Sex mit Gemüse, alles Unhygienische und vor allem über ihre Hämorrhoiden erzählt. Mit der Protagonistin steigt die Kamera auch sogleich in eine verdreckte öffentliche Toilette, wo sich Helen lustvoll auf die verschmutzte Klobrille setzt.

Verletzter Teenager

Solche doch eher eklige Szenen sind aber weder für Helen noch für den Film Selbstzweck. Während der Teenager damit gegen die auf Hygiene bedachte Erziehung der Mutter und ihre unglückliche Kindheit rebellieren will, wollen Wnendt und Roche ein Zeichen gegen den Schönheits- und Sauberkeitswahn unserer Zeit setzen. Wirklich nachvollziehen kann man letzteres kaum, bleibt eher Behauptung von Wnendt/Roche, die Teenagergeschichte mag dagegen durchaus zu überzeugen.
Hautnah ist Wnendt an seiner Protagonistin dran, kennt keine Distanz, sondern zieht den Zuschauer mit der unmittelbaren Inszenierung und dem Voice-over in Helens Leben und ihre Psyche hinein.
Mit einer Analfissur im Krankenhaus liegend, erinnert sie sich an traumatische Kindheitserlebnisse, an schnellen Sex mit Jungs, an ihre Freundschaft zu Corinna (Marlen Kruse), mit der sie selbst gebastelte gebrauchte Tampons austausche, aber auch ein schräges Drogenabenteuer erlebte. Auf der Gegenwartsebene provoziert sie Ärzte und Pfleger Robin (Christoph Letkowski), im Zentrum steht aber immer ihre Sehnsucht die geschiedenen Eltern am Krankenbett wieder zusammen zu bringen.

Provozieren, aber nicht verstören

Verbal nimmt sich der Film kein Blatt vor den Mund, will mit Fäkalhumor und unappetitlichen Szenen schocken, bleibt auf der visuellen Ebene im Vergleich dazu aber gerade zurückhaltend. Wnendt weiß genau, was er dem Zuschauer zumuten darf, ohne ihn wirklich zu verstören. Er spielt mit der Provokation, überschreitet aber kaum gewisse Grenzen.
Entschärft wird das Eklige auch durch die poppigen Farben und einen Soundtrack, der durch den unbekümmerten Mix von Rockmusik und Klassik "Feuchtgebiete" viel Leichtigkeit, Schwung und Frische verleiht. Locker konsumierbar wird so eine Szene, in der ein paar Jungs wichsen, weil das Sperma in einer ironischen Anspielung auf Kubricks "2001" zum Donauwalzer auf eine Pizza klatscht.
Unübersehbar Kino für ein jugendliches Publikum ist das. Diese Schicht spricht Wnendt auch mit der expressive Bildsprache und visuellen Spielereien wie Splitscreen, Inserts und Standfotos an, durch die der Film einen großen Drive entwickelt.
Am weitesten geht der 36-jährige Deutsche am ehesten noch in ein paar religionskritischen Szenen. Die bissigen Kommentare zum Katholizismus, der laut Helen "bizarrsten von allen Religionen", und TV-Bilder vom kranken Papst Johannes Paul II. wird man hinnehmen, problematisch und gefährlich scheint eher, wenn Helen zum Muezzin-Ruf aus ihrem Wecker, den Finger in ihren Arsch steckt.

Carla Juri - das Herz und Kraftzentrum des Films

Zusammengehalten und auch getragen wird diese rasante Coming-of-Age-Komödie von einer grandiosen Carla Juri in der Hauptrolle. Mit vollem Körpereinsatz und großer Offenheit spielt sie diese Helen. Sie ist das Kraftzentrum und das Herz dieses Films und schafft es, die Verletzlichkeit und Verletztheit einer zunächst doch unsympathischen Figur eindringlich zu vermitteln, sodass man Mitgefühl mit ihr entwickelt und am Ende hofft, dass ihr der Weg in ein glückliches Erwachsenenleben gelingt.