Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Gunnar Landsgesell · 31. Okt 2015 · Film

Die Schüler der Madame Anne

Eine Problemklasse in den Pariser Vororten lernt Zutrauen in sich selbst, als die Klassenlehrerin sie überredet, an einem landesweiten Wettbewerb teilzunehmen. Klingt didaktisch, ist aber ein schönes, wüst inszeniertes Stück Kino, das vom Rotz und der Würde des Lebens erzählt.

Wahre Geschichten fühlen sich im Kino oft wie Märchen an. „Die Schüler der Madame Anne“ ist so ein Fall. Eine Schulklasse an den Rändern von Paris: Viele der Kinder stammen aus sozial schwachen Familien, Spaß und coole Sprüche zählen mehr als die Teilnahme am Unterricht. „Madame Anne“ beginnt ähnlich aufgedreht wie „Fack ju Göhte“, nur nicht ganz so bescheuert. Ohne seine innere Dramatik zu nivellieren ändert sich das Tempo des Films, wenn die Klassenlehrerin, Madame Anne (stark: Ariane Ascaride) den Jugendlichen vorschlägt, am landesweiten Schüler-Wettbewerb über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus teilzunehmen. Kinder und Jugendliche im KZ, so lautet das Thema. Viele der Schüler kommen aus Einwandererfamilien aus Afrika und dem arabischen Raum, die für die Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis und ihrer französischen Kollaborateure kein besonderes Interesse aufbringen. Madame Anne erweckt dann doch ihre Aufmerksamkeit, eine andere Seite der Problemklasse wird nun sichtbar.

Kollektiv der Ungeliebten

„Madame Anne und ihre Schüler“ (im Original: „Les Héritiers“ / Die Erben) klingt ein wenig wie jene Filme, die ihre Dramaturgie ganz ihrer gut gemeinten Botschaft unterordnen. Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar legt es anders an. Sie nutzt das Format aufsässiger Schulklassenfilme, das sich im deutschen Kino ebenso findet wie in US-amerikanischen High-School-Komödien, und lässt neben der destruktiv-komischen Seite der Schüler auch noch Platz für andere Charaktereigenschaften. Mention-Schaar interessiert sich insbesondere, was die Hoffnungen der Lehrerin in die Fähigkeiten der Schüler als Kollektiv mit diesen macht. „Es scheint, als hätte ich mehr Zutrauen in euch als ihr selbst“, sagt Madame Anne einmal. Kammerspielartig – Außenszenen gibt es kaum – entwickelt sich vor allem eine Dynamik zwischen den Schülern und ihren widerstreitenden Interessen und Konflikten, die durchaus spannend zu beobachten ist. Einige Szenen wirken in ihrer Umsetzung etwas vordergründig, wie jene, in der ein zum Islam konvertierter Schüler der bessere Muslim sein möchte und ein revisionistisches Geschichtsbild offenbart. Dass der Film insgesamt aber nicht besonders pädagogisch wirkt, mag auch daran liegen, dass mit Ahmed Dramé ein Schüler jener Klasse, deren Geschichte hier erzählt wird, das Drehbuch mitverfasst hat. Dramé spielt im Film die Rolle des Malik. In einigen Momenten bringt „Madame Anne“ einen gewissen Realismus in das Geschehen. Wenn die muslimischen Jugendlichen aufheulen, weil auf einem Gemälde der Prophet in der Hölle dargestellt ist, dann erinnert das an aktuelle Diskussionen über den Islam, die von allen Seiten durch mangelnde Medienkompetenz geprägt ist. Bilder ohne Kontext – so erklärt Madame Anne den Schülern – gibt es nicht, jedes Bild sei immer auch manipulativ. Eine ganz klar subjektive Bildsprache verfolgt auch der Film selbst, der aus dem größten Getümmel heraus erzählt scheint. Auch wenn dabei die Perspektiven in den raschen Schnitten nicht immer stimmen und die räumliche Wahrnehmung oft etwas seltsam wirkt, wird ein Blick von oben herab erfolgreich vermieden. Konsequenterweise macht sich der Film in jenen Passagen, in denen die Schüler die Shoa erkunden, auch ein gewisses Pathos zu eigen. Aus dem Zusammentreffen von Erinnerungs- und Einwandererkultur, also der Erzählung einer zweifachen Entwurzelung, die sich im Auftritt eines KZ-Überlebenden und in der Marginalisierung nicht-weißer Schüler findet, bezieht „Madame Anne“ einen besonderen Reiz. Hier schlägt der Film eine selten geschlagene Brücke.