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Gunnar Landsgesell · 10. Feb 2017 · Film

Das unbekannte Mädchen

Eine junge Ärztin gerät in ein moralisches Dilemma, weil sie - zwar unverschuldet - sich dennoch am Tod einer jungen Afrikanerin schuldig fühlt. Ein Film der Brüder Dardenne, der zwischen bewährtem sozialkritischen Entwurf und Krimi changiert.

Ein langer Tag geht für die junge Ärztin Jenny (Adèle Haenel) zu Ende. Sie arbeitet die letzten Tage in einer Praxis in einem der ärmeren Bezirke von Lüttich, bevor sie eine gut dotierte Stelle in einer Privatklinik annehmen wird. Bereits deutlich nach Ordinationsschluss läutet es an der Tür. Jenny, die sich durch den Praktikanten genervt fühlt, verbietet diesem zu öffnen. Am nächsten Tag steht die Polizei vor der Tür und befragt sie zu einem Todesfall. Möglicherweise ist am Abend zuvor eine Frau afrikanischer Herkunft ermordet worden. Auf den Bildern der Überwachungskamera sieht man, wie sie hilfesuchend durch die Glastür der Praxis blickt.

Schuld, ohne schuldig zu sein, das ist das moralische Dilemma, um das es in „Das unbekannte Mädchen“ geht. Das belgische Regie-Duo Jean-Pierre und Luc Dardenne stürzt ihre Protagonistin Jenny in eine regelrechte Aporie, der diese nur dadurch zu entkommen glaubt, indem sie die Biographie der toten Frau zu erkunden sucht. Ganz im erprobten Stil der Dardennes („Rosetta“) ist „Das unbekannte Mädchen“ als ruhelose Investigation gefilmt, in der Spuren nachgespürt wird und Orte durchstreift werden, an denen sich die Unbekannte vielleicht einmal aufgehalten hat. Das Publikum folgt dank der Handkamera dabei hautnah der Protagonistin. Während Jenny ihre Patienten vielmehr verhört als behandelt, stellt sich die Frage, ob man es hier mit einem Krimi mit sozialkritischem Hintergrund zu tun hat, oder umgekehrt. 

Die Dardennes wurden für die von ihnen entwickelte Ästhetik der Unmittelbarkeit vielfach preisgekrönt. Das Spannende an ihren Filmen liegt an den präzisen Alltagsbeschreibungen und der flexiblen, unberechenbaren Wendigkeit ihrer Szenen. Das absorbiert die Aufmerksamkeit des Zusehers derart, dass es keiner besonderen dramaturgischen Tricks bedarf, um sich einer weiteren Zeugenschaft zu vergewissern. „Das unbekannte Mädchen“ rückt von dieser „Methode“ etwas ab, der Film wirkt wie ein Thriller-Entwurf. Die Dardennes hatten freilich etwas anderes im Sinn, wie sie in einem Interview erklären: Sie wollten die Frage des moralischen Dilemmas, in dem die europäischen Bevölkerungen durch die Flüchtlinge an den Grenzen Europas stecken, in dieser Geschichte verhandeln. „Das unbekannte Mädchen“ wirkt plausibel als Versuch, das im Kleinen durchzuspielen, zugleich wird die Konstruiertheit des Projekts immer wieder spürbar.