Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Gunnar Landsgesell · 18. Aug 2016 · Film

Captain Fantastic

Sechs Kinder und ein Vater haben im Wald eine alternative Mini-Gesellschaft gegründet. Tagsüber wird gejagt und abends beim Lagerfeuer Noam Chomsky gelesen. Als sie sich mit dem Bus in die Zivilisation aufmachen, findet "Captain Fantastic" zu einer komisch überdrehten Zivilisationskritik, die in beide Richtungen funktioniert.

Eine Großfamilie in den Wäldern, die fernab der Zivilisation ein Leben führt, dessen Leitbilder geradezu der griechischen Antike entlehnt sein könnten. Die Kinder werden körperlich und geistig ertüchtigt, jagen tagsüber Tiere und am Abend steht die Lektüre klassischer Literatur wie Die Brüder Karamasow oder auch von Noam Chomsky, einem der Superstars einer linksintellektuellen Systemkritik der Achtziger und Neunziger Jahre. Die durchaus absichtsvoll ins Absurde überhöhten Szenerien, die Regisseur Matt Ross auf den ersten Blick wie einen fröhlichen Urlaub mit ein paar schulischen Pflichten inszeniert, hat, wie sich nach und nach erfahren lässt, ihre Tücken. Als einer der Buben beinahe von einer Felswand abstürzt, verstärkt sich der Verdacht, dass hinter der Idylle zwischen Zelten, Lagerfeuern und der Huldigung eines freigeistigen Individualismus ein unerbittlicher Verfechter dieses ganzen antikonformistischen Ertüchtigungsprojekts stecken muss. Er ist in der Rolle von Viggo Mortensen, unschwer auszumachen, eine Art Captain Fantastic, der als Häuptling und Vater seinen sechs Kindern den Rhythmus und die Regeln vorgibt, freilich deren ebenso bereitwillige wie unfreiwillige Aussteigerexistenz.

Zweifache Zivilisationskritik


Es hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Filmen im Kino gegeben, die sich kritisch zu Kommunen-Experimenten als Alternative zur Kleinfamilie positioniert haben. Thomas Vinterbergs „Die Kommune“ oder zuvor Marie Kreutzers „Die Vaterlosen“, zudem mehrfache Einblicke in die perversen Machtlogiken der Mühl-Kommune. Sie alle hatten ihre Kritik an autoritären Strukturen hinter einem scheinbar egalitären Gesellschaftsentwurf angebracht. Uns so ähnlich funktioniert auch „Captain Fantastic“, in dem sich der Familienvater als verbissener Didaktiker und schrulliger Weltfremdling entpuppt. Das Schöne an Ross’ Film ist allerdings, dass sich diese Verbissenheit nicht auf die Dramaturgie des Films selbst ausgebreitet hat, sondern der patriarchalen Macht mit infantilem Humor entgegentritt und damit zu einer durchwegs ambivalenten Haltung des Films zur geübten Kritik an der kleinen Abenteurer-Kommune findet. Dass Weihnachten zugunsten eines Noam-Chomsky-Tages weichen muss, ist nur eine der ironischen Ideen, die nicht so sehr als inhaltliche Kritik an diesem zu verstehen ist, sondern an den Tendenzen der Versteinerung, die die Huldigung von guten Ideen oder Denkern zumeist erfährt – und die Praxis dann in das Gegenteil verkehrt. Dass es Ross nicht um eine Abrechnung geht, lässt sich aber auch an der Begegnung zweier Gesellschaftsentwürfe ablesen: Als die abwesende Mutter der Familie sich in einem Krankenhaus das Leben nimmt, beginnt die Waldgemeinschaft endgültig zu bröckeln. Die Reise mit einem Kleinbus in die Zivilisation zum Begräbnis, die Begegnung mit dem Schwiegervater (Frank Langella), der den Aussteiger-Spleen für geradezu kriminell befindet, die erste Begegnung mit Coca Cola („giftiges Wasser“) oder auch übergewichtigen, also „zivilisationsgeschädigten“ Amerikanern, wird zum Auftakt einer Welterkundung in beide Richtungen. Die Bücherwürmer aus dem Wald müssen aber auch erkennen, dass Bildung nicht vor Weltfremdheit schützt – und wohlmeinende Disziplinierung, wie auch immer ausgerichtet, keine besseren Menschen hervorbringt. Der komödiantische Duktus von „Captain Fantastic“ ist indes der Versuch, nicht selbst den Zeigefinger zu erheben.