Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Gunnar Landsgesell · 04. Nov 2016 · Film

Alles was kommt / L'avenir

Das Leben der Philosophielehrerin Nathalie (Isabelle Huppert) läuft trotz kleinerer Spannungen in gewohnten Bahnen. Bis ihr Mann sie verlässt. Regisseurin Mia Hansen-Love zeigt, was eine neu gewonnene Freiheit alles bringen kann - oder auch nicht.

Als ein Schülerstreik für mehr Arbeitnehmerrechte die Schuleingänge blockiert, erfährt die Philosophielehrerin Nathalie (Isabelle Huppert) selbst eine Prüfung. Sie, die gerne die großen philosophischen Vordenker der Demokratie durchnimmt, drängt sich unwirsch durch die Streikenden, weil ihr der Unterricht wichtiger ist. Nathalie, Mitte 50, Mutter zweier fast erwachsener Kinder und eines Ehemannes, der „kurz“ einmal Kommunist war und nun recht verknöchert wirkt, ist ein bisschen bürgerlich geworden, ohne es zu merken. In der Theorie steht sie für Ideale ein, deren praktische Haltung im Leben sie nicht mehr ganz teilt.
Das Leben von Nathalie läuft schon lange in geordneten Bahnen und Regisseurin Mia Hansen-Løve („Tout est pardonné“, „Der Vater meiner Kinder“) folgt ihr dabei erst an all die kleinen Nahtstellen, deren Spannung sie vielleicht schon lange spürt, die nun aber aufplatzen. Die nächtlichen Anrufe ihrer egozentrischen Mutter, die ihre Tochter in emotionaler Geiselhaft hält; die Entfremdung zu ihren Kindern, die sich zu wenig geliebt fühlen; die Nachricht des Schulbuch-Verlages, dass ihre Texte schon angestaubt seien. Und das plötzliche Geständnis ihres Mannes, er werde sie für eine jüngere Frau verlassen.
Nathalies Reaktion „Ich dachte, du liebst mich für immer“ klingt weder besonders überrascht noch überzeugt. Mit jedem kleinen Ruck zieht Hansen-Løve ihrer Hauptfigur ein Stück mehr den Boden unter den Füßen weg und bringt damit eine neue Freiheit, die sich recht ambivalent anfühlt: vor allem wie ein Verlust und weniger als die Chance, die in solchen Situationen gerne zitiert wird.
„L’avenir“ / „Alles was kommt“ entfaltet sich dennoch nicht als Drama, sondern spürt den kleinen Ironien nach, mit der Nathalie in dieser Lebensphase reagiert. Gerade in der Bekanntschaft mit einem ihrer ehemaligen Schüler, Fabien (Roman Kolinka), dessen ostentative politische Radikalität Nathalie anzieht, findet Hansen-Løve eine Reibungsfläche, die „L’avenir“ zu einer zweiten, anderen Realität verhilft.

Nicht alles, was Fabien und Nathalie so ineinander gesehen haben, hält einer näheren Prüfung stand. Szenen wie jene des Schülerstreiks zu Beginn des Films, die bereits von einer Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis kündeten, wiederholen sich unter anderen Vorzeichen. Nathalie muss ihr Leben neu ausrichten und das Verhältnis zu ihrer Umwelt neu abwägen, wenn sie etwa in ihrer unvermittelten „Freiheit“ beschließt, Fabien auf einen Bauernhof zu folgen, auf dem gesellschaftliche Umwälzungen im Kleinen geprobt werden.
Hansen-Løve hat dabei ihre Fühler auch auf die feinsten Stimmungen ausgelegt, „L’avenir“ richtet sich in der neuen Unbehaglichkeit und Unbehaustheit von Nathalie auf perfekte Weise ein. Jede Geste, jeder Blick und jede etwas zu kühl ausgefallene Freundlichkeit erzählt zugleich von einer Frau, die tapfer vorwärts schreitet, ohne zu wissen wohin. Isabelle Huppert hält die Verstörung, die ihre Figur erlebt, einmal mehr tief in sich vergraben, um so das Ringen um Souveränität nicht allzu sehr zu dramatisieren. Die pikierte Ironie von Nathalie erweist sich als eine der wenigen Konstanten in „L’avenir“.