Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Annette Raschner · 02. Jun 2015 ·

Entwurzelung und Brüche - 4. Hohenemser Literaturpeis für deutschsprachige AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache geht an Que Du Luu

Der mit 10.000 Euro dotierte „Hohenemser Literaturpeis für deutschsprachige AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache“ geht heuer an die in Bielefeld lebende Schriftstellerin Que Du Luu für ihre bemerkenswerte Erzählung „Das Fest des ersten Morgens“, in der auf hochpoetische Art und Weise eine Geschichte der Entwurzelung und der Brüche erzählt wird. Que Du Luu wurde 1973 in Südvietnam geboren. Nach Ende des Vietnamkriegs waren sie und ihre Familie als Boatpeople über Umwege nach Deutschland gekommen. Annette Raschner hat mit Que Du Luu das folgende Gespräch geführt.

Annette Raschner: Frau Luu, voraussichtlich im Frühjahr 2016 wird Ihr dritter Roman mit dem Arbeitstitel „Im Jahr des Affen“ im Verlag Königskinder erscheinen, in dessen Zentrum Mini und ihr Vater stehen, die einst als Boatpeople nach Deutschland gekommen sind.  Auch in Ihrer preisgekrönten Erzählung „Das Fest des Morgens“ geht es um eine Flüchtlingsfamilie in Deutschland, um das Ringen um Identität in der Fremde und die Schwierigkeit, fern der alten Heimat eine neue zu finden. Ist die Mutmaßung zulässig, dass Ihr literarisches Schreiben AUCH jene Funktion hat, dem Grauen, das Sie und Ihre Familie erfahren haben, eine andere Kraft entgegenzusetzen: Jene der Poesie?
Que Du Luu:
Ich habe spät angefangen zu schreiben. Aber noch sehr viel später habe ich angefangen, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Für den dritten Roman hatte ich meinen Eltern einige Fragen gestellt. Danach war das Thema für mich abgehakt. Es sollte für immer ruhen. Aber es ruhte nur für einige Zeit. Irgendwann, lange nach Abschluss des Romans, habe ich plötzlich angefangen, mich richtig mit dem Vietnamkrieg auseinanderzusetzen. Ich habe gelesen und gelesen. Ich habe weitere Gespräche mit meinen Eltern geführt. Es war also umgekehrt. Das Schreiben hat erst dazu geführt, mich „dem Grauen“ zu stellen, denn eigene Erinnerungen hatte ich selbst nicht mehr.
Poesie ist geeignet, um schlimme Ereignisse zu verarbeiten. Die Kraft der Poesie sehe ich aber nicht im „Entgegensetzen“, sie schafft Vertiefung. Poesie ist auf eine gewisse Weise immer schön, egal, welchen Inhalt sie transportiert. Durch die Schönheit wendet man sich nicht sofort von dem Schrecken ab wie üblich, sondern verweilt länger bei ihm.
Das Grauen fing für die meisten Südvietnamesen erst nach dem Fall Saigons - nach der sogenannten „Befreiung“ - an. Die 68er-Bewegung malte sich ein romantisches Bild von den selbstlosen Befreiern aus dem Norden. Dabei sind nach Kriegsende, nachdem alle Kampfhandlungen aufgehört hatten, als Frieden herrschte, noch Hunderttausende Menschen umgekommen. Es gab massenhaft Hinrichtungen auf offener Straße. Etwa zwei Millionen Boatpeople entschieden sich für die Flucht über das Meer, in der Gewissheit, ihr Leben und das Leben ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. Schätzungsweise eine Viertel Million haben bei diesem Boatpeople-Roulette tatsächlich mit ihrem Leben bezahlt. Obwohl meinen Eltern viel Grauenhaftes widerfahren ist, haben sie auch Glück gehabt. Alle engeren Familienmitglieder haben überlebt.

Wehmut ist dann doch noch aufgekommen


Raschner: „Hier ist Weiß nicht mehr die Unglücksfarbe, sondern Schwarz (…) wir haben schwarzes Haar. Ich hasse Schwarz (…) Was hassen die Leute hier? In manchen Augen sehe ich den Hass wegen des schwarzen Haars. Ich möchte in einen großen Ofen steigen und mich in Rauch auflösen“ – Sätze, die in der Erzählung „Das Fest des Morgens“ sehr deutlich machen, wie sich die Ich-Erzählerin, die als Kind nach Deutschland gekommen ist, in der neuen Heimat fühlt. Hier, wo alles anders zu sein scheint. Wo die Eltern die Kinder liebkosen, wenn sie sie in die Schule bringen und Toilettenpapierrollenhüte häkeln. Doch etwas später kann man auch lesen: „Mittlerweile liebe ich das Weiße. Im Schnee kann man Vogelspuren entdecken.“ War es Ihnen wichtig, nicht nur die Wehmut, die Bitterkeit vorkommen zu lassen, sondern auch die Hoffnung und auch die Bereicherung, die einem durch das Kennenlernen einer neuen Kultur zukommt?
Luu:
Ich war nicht wehmütig, denn ich hatte keine Erinnerungen mehr an meine „alte Heimat“. Ich sah nur Unterschiede zwischen dem, wie es bei uns zu Hause war und wie es bei deutschen Familien zuging. Für „Das Fest des ersten Morgens“ stellte ich mir meine Eltern vor, was sie damals gefühlt haben mussten. Kommt man in eine neue Welt, nimmt man Schlechtes und natürlich auch Gutes deutlicher wahr. Vieles, was einem zunächst schlecht erscheint, ist in Wirklichkeit aber nicht schlecht, sondern nur anders. Die deutsche Kultur ist auf jeden Fall eine Bereicherung. Ich mag zum Beispiel den Perfektionismus, die klare Sprache, die Nachdenklichkeit, die Hilfsbereitschaft, den liebevollen Umgang mit Kindern. Seltsamerweise ist die Wehmut dann doch noch aufgekommen – nachdem ich schon über 40 Jahre alt war.

Raschner: Am Beginn der Erzählung steht die Beschreibung jenes Rituals vor dem Neujahrsfest Tet, bei dem die Menschen versuchen, den Küchengott, der dem Jadekaiser alljährlich im Himmel berichtet, wie sich die Hausbewohner das ganze Jahr über verhalten haben, mit Klebreiskuchen zu bestechen. Gegen Ende wird in journalistischem Stil von der Tet-Offensive am 30. Januar 1968 berichtet, bei der ganze Familien in Südvietnam während des Festes zu Hause liquidiert wurden. Das war fünf Jahre vor Ihrer Geburt in Saigon, wo damals besonders heftige Gefechte waren. Hat Ihre Familie später mit Ihnen über dieses Massaker gesprochen oder haben Sie über andere „Umwege“ davon erfahren?
Luu:
Mein Vater hatte schon einige Male die Kämpfe an Neujahr erwähnt. Ich verstand ungefähr so viel: Es herrschte Waffenruhe und dann knallte alles. Als ich begann, mich anderweitig über den Vietnamkrieg zu informieren, begegnete mir die Tet-Offensive, und ich erinnerte mich sofort wieder an die Erzählstücke meines Vaters. Ich las von den schwarzen Listen, von dem gezielten Aufsuchen und den anschließenden Ermordungen von Zivilisten. Das hatte mich mehr berührt als die Gefechte: Arglos feiernde Familien, die zu Hause durch Exekutionskommandos hingerichtet wurden. Ich fragte meinen Vater noch einmal über die Tet-Offensive aus. Er erzählte mir, dass einige Vietcong bei seinen Eltern nach ihm und seinem jüngsten Bruder gesucht hätten. Er hatte also auch auf einer dieser Listen gestanden. Mein Vater und sein Bruder waren keine Zivilisten gewesen. Sie waren einfache Soldaten gewesen, die ihren Wehrdienst ableisten mussten. Beide waren nicht zu Hause gewesen. Mein Vater hatte meine Mutter besucht. Ich habe es also nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es mich überhaupt gibt.

Bewusstseinswandel in der Bevölkerung


Raschner: Aktuell weiß Europa nicht, wie es mit den vielen Flüchtlingen umgehen soll, die zum Großteil schwer traumatisiert mit der Hoffnung auf ein friedliches Leben hierherkommen. Welche Gedanken und Gefühle erleben Sie angesichts der Ereignisse der letzten Wochen und Monate?
Luu:
Die Bilder von überfüllten Schiffen und vor allem das Wissen um die zahlreichen Toten haben zu einem Bewusstseinswandel in der Bevölkerung geführt, so ist mein Eindruck. Endlich wird die Verzweiflung der Flüchtlinge wahrgenommen. Niemand begibt sich auf solche Boote, nur um es in Europa bequemer zu haben. Niemand riskiert sein Leben, wenn er Alternativen sieht. Wenn ihm sein Leben lebenswert erscheint. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in Deutschland aufgenommen worden sind. Meiner Familie und mir ermöglichte das ein freies und selbstbestimmtes Leben. Für die meisten ist das nur eine Selbstverständlichkeit.“

Raschner: Der Hohenemser Literaturpreis ist dezidiert ein Preis für deutschsprachige AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache. Welche Bedeutung messen Sie gerade diesem Preis bei?
Luu:
Viele Nicht-Muttersprachler sind Flüchtlinge. Die Bilder von ausgezehrten Flüchtlingen erzeugen bei dem Betrachter vor allem ein Gefühl: Mitleid. Die Flucht ist jedoch nur eine kurze Episode. Diese Menschen hatten ein Leben davor und wenn sie Glück haben, haben sie auch ein Leben danach. Wenn die Geschichten dieser Menschen literarisch verarbeitet werden, interessieren sich andere verstärkt dafür. Durch den Hohenemser Literaturpreis wird betont, dass hinter den „Nur“-Flüchtlingen oder „Nur“-Migranten so viel mehr stecken kann. Es ist die einzige Möglichkeit zusammenzufinden: Man muss in die Haut des anderen schlüpfen. Man muss ihn besser kennenlernen. Dann erkennt man: In vielen Punkten tickt man gleich.
In meinem dritten Roman heißt es gegen Ende: „Besteht nicht jeder Mensch aus einer Geschichte und muss man dann nicht alle Kapitel kennenlernen, um den Menschen kennenzulernen?

Im Rahmen des Hohenemser Literaturpreises wird am 26. Juni, dem Tag vor der Preisverleihung, erstmals mit „Kommen & Gehen“ im Salomon-Sulzer-Saal ein neuer Lesewettbewerb stattfinden, der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Forum für eigene Texte bietet. Anmeldungen sind ausschließlich vor Ort möglich. Eine nach dem Zufallsprinzip besetzte Publikumsjury wählt anonym den Beitrag, der gewonnen hat. Das Preisgeld in Höhe von 400 Euro wird vom Bucher Verlag gestiftet.