Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Füssl · 29. Nov 2016 · CD-Tipp

Keith Jarrett: A Multitude Of Angels

Schon in den 1970-er Jahren wurde Keith Jarrett zum Mythos, weil ihn seine unglaublich tiefe Musikalität, seine stets aufs Neue verblüffenden Kreativität und etwas spürbar, aber nicht fassbar Spirituelles dazu befähigte, in seinen Solokonzerten an die Grenzen des physisch und psychisch Machbaren zu gehen. Oft waren es nur vier oder sechs Stücke, die er aus einem unversiegbaren Quell an wild mäandernden Improvisationen zu einem großartigen Konzerterlebnis zusammenfließen ließ. Live-Aufnahmen aus Bremen/Lausanne, die japanischen Sun Bear Concerts, Bregenz/München und natürlich „The Köln Concert“, das unter widrigen Umständen entstanden ist und mit dreieinhalb Millionen Exemplaren trotzdem zum meistverkauften Soloklavieralbum aller Genres und aller Zeiten wurde, sind exzellente Beispiele dafür. Abgeschlossen hat Keith Jarrett diese eindrucksvolle Phase der Marathonimprovisationen, die in insgesamt 18 Live-Veröffentlichungen bei ECM vorliegen, 1996 mit abendfüllenden Konzerten in Modena, Ferrara, Turin und Genua.

Wie die nun 20 Jahre später im Viererpack veröffentlichten Mitschnitte beweisen, befand er sich damals am Zenit seiner Schaffenskraft. Jeden Abend spielte er ohne Pausen zwei rund dreißig bis vierzig Minuten lange spontan fließende Improvisationen, vollgepfropft mit rhythmischen, melodischen und harmonischen Einfällen, mitunter auch noch ein oder zwei kurze Encores. In den insgesamt rund fünf Stunden Spielzeit wird die enorme Bandbreite seines Solo-Schaffens aufgezeigt. Da sind zauberhaft lyrische Momente von großer Zartheit und Intensität ebenso zu hören wie Schroff-Kantiges, Hymnisches und Elegisches, Meditatives oder Temperamentvolles, oder aus seinem reichhaltigen Fundus an Musikhistorischem Geschöpftes – Jazz, Klassik und Alte Musik nennt Jarrett selber als Einflüsse, aber auch Blues-, Gospel- und Soulelemente lassen sich ausmachen. Besonders beglückend empfand der einzigartige Pianist den Umstand, dass er dank seines DAT-Recorders auch die volle Kontrolle über Produktion und Aufnahme hatte. Nach Abschluss dieser Konzertreihe in Italien, die Jarrett selbst als absolute Höhepunkte in seiner Karriere bezeichnet, weil auch alle äußeren Umstände perfekt stimmten, wurde der Pianist, der sich möglicherweise in diesen rauschhaft-ekstatischen Musikexpeditionen verausgabt hatte, von einem chronischen Müdigkeitssyndrom befallen und musste sich für zwei Jahre völlig aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Sein damaliges Gefühl während der Liveimprovisationen auf der Bühne, er müsse so spielen, als ob es das letzte Mal wäre, hatte also einen sehr realen Hintergrund. Es sei nur seinem Hausengel zu verdanken, dass er 1998 den Weg zurück aufs Konzertpodium überhaupt nochmals fand, liest man in den von Keith Jarrett selbstverfassten Liner-Notes, die einen interessanten Einblick in seine mystisch-esoterische Weltsicht bieten. Und auch die damals perfekten Verhältnisse in Italien seien auf den Einfluss der Engel zurückzuführen. Da bleibt einem als begeisterter Musik-Fan angesichts des gigantischen musikalischen Outputs nur noch „Engel sei Dank!“ zu sagen.

(ECM/Vertrieb: www.lotusrecords.at)