Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 13. Jun 2016 · CD-Tipp

Barry Guy: The Blue Shroud

„Es war ein Anlass, über die Gräuel des 20. und 21. Jahrhunderts nachzudenken, die sich unter dem Deckmantel von Macht, Herrschaft und Verschleierung ereignet haben. Hier war ein Gemälde mit einer Botschaft, die ich aufgreifen musste. Eines schien mir sicher: Es war möglich, ein Musikstück zu schreiben, das die Aktualität des Themas widerspiegelt. Ein Stück, das die Kraft des menschlichen Geistes zeigt, der Unterdrückung durch Tyrannei zu widerstehen.“ Das Gemälde, das Barry Guy zur 71-minütigen Komposition „The Blue Shroud“ inspirierte, war Pablo Picassos 1937 entstandener Klassiker „Guernica“ – eine aufwühlende Reaktion auf die Bombardierung und Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch im Dienste Francos stehende deutsche und italienische Faschisten, die hunderte von Zivilisten das Leben kostete. Der blaue Vorhang kam 2003 zum Einsatz, als eine nach diesem Bild angefertigte Tapisserie im New Yorker UN-Sicherheitsrat verhüllt wurde, ehe dort der damalige US-Verteidigungsminister Colin Powell die militärische Invasion im Irak ankündigte. Offensichtlich wurde das Bild in seiner Symbolträchtigkeit als entlarvend eingestuft, denn es stand ja wieder ein bluttriefender Kriegsgang bevor.

Barry Guy, der in der Schweiz lebende englische Kontrabassist und Komponist hat ein unglaublich komplexes und vielschichtiges Werk geschrieben, in dem – für ihn typisch – Durchkomponiertes neben freien Improvisationen, Neue Musik neben Jazz und Barockmusik stehen. Eine große Herausforderung für das vierzehnköpfige Ensemble, das quasi in allen musikalischen Lagern zuhause sein muss. Lucas Niggli und Ramon Lopez exekutieren die anspruchsvolle Rhythmusarbeit auf bewundernswerte Weise, während Violinistin Maya Homburger, Bratschistin Fanny Paccoud, Tuba/Serpent-Virtuose Michel Godard und Oboist Michael Niesemann die Barockparts von J.S. Bach und H.I.F. Biber exzellent gestalten. Diese dienen als Ruhepole zwischen den explosiv-expressiven, klangfarbenreichen, oft dissonanten und manchmal in wütenden Noise-Passagen kulminierenden Sequenzen. Der englische Komponist/Gitarrist Ben Dwyer überzeugt als Saitenvirtuose mit seiner einem großen Einfühlungsvermögen zu verdankenden Wandlungsfähigkeit ebenso wie Pianist Agustí Fernández und die aus der europäischen Jazz/Impro-Szene stammenden Bläser Percy Pursglove, Torben Snekkestad, Per Texas Johansson und Julius Gabriel. Als eine Art roter Faden zieht sich das von Guy vertonte und von der griechischen Sängerin Savina Yannatou facettenreich gesungene Poem „Symbols of Guernica“ der irischen Dichterin Kerry Hardie durch das gleichermaßen sperrige wie ungemein dichte und emotional aufrüttelnde Werk. Der „Genuss“ (falls man das so nennen will) am Hören von „The Blue Shroud“ steigert sich proportional zum Ausmaß der geistigen Auseinandersetzung mit dieser außergewöhnlichen Komposition – unvorbereitet trifft sie einen in der Magengrube.

(Intakt Records)