Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Karlheinz Pichler · 28. Feb 2017 · Ausstellung

Zwischen pulsierendem Großstadtleben und Inselidylle - Ernst Ludwig Kirchner im Kunsthaus Zürich

Nach den Giganten Francis Picabia und Alberto Giacometti, die das Kunsthaus Zürich im vergangenen Jahr präsentierte, steht derzeit mit Ernst Ludwig Kirchner, der gleichsam als Synonym für den Expressionismus bezeichnet werden könnte, eine weitere Ausnahmeerscheinung unter den Künstlern des vergangenen Jahrhunderts auf dem Programm. Anhand von fabelhaften Leihgaben aus dem Berliner Brücke-Museum und aus aller Welt wird der Blick auf Kirchners entscheidende Phase in seinem Schaffen zwischen 1911 und 1917 in der deutschen Metropole Berlin und der Ostseeinsel Fehmarn gerichtet.

Im Herbst 1911 übersiedelte der damals 31-jährige Künstler Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), der als der beste unter den deutschen Expressionisten gilt, von Dresden nach Berlin. Er hoffte, in dieser Stadt, die binnen eines Jahrhunderts zu einer der modernsten Großstädte explodierte, besser verkaufen zu können. Genauso wie übrigens auch seine Dresdner „Brücke“-Kollegen wie beispielsweise Max Pechstein. Allerdings war der Existenzkampf in der Spreemetropole Berlin, in der es zu dieser Zeit noch wild und unangepasst zuging, unerbittlich hart. In Briefen brachte Kirchner daher zunächst seine Enttäuschung zum Ausdruck, und er beabsichtigte auch mehrmals, von dort wieder wegzuziehen. Andererseits fand er Berlin aber auch „interessant und reich“ und inhalierte das pulsierende Leben, wie es sich bot.

Anhand von rund 160 Gemälden, Pastellen, Zeichnungen, Druckgrafiken, Skizzenbüchern und einer Auswahl von Stoffarbeiten, Skulpturen und Fotografien präsentiert das Kunsthaus Zürich unter dem Titel „Großstadtrausch/ Naturidyll“ nun Kirchners Schaffen in diesem betriebsamen und vitalen Großstadtklima und auf der idyllischen Ostseeinsel Fehmarn. Denn während der Sommermonate, wenn es in der Stadt an der Spree schwül und heiß wurde, kehrte Kirchner Berlin jeweils den Rücken und verbrachte die Zeit auf Fehmarn am östlichsten Zipfel Schleswig-Holsteins. Diese zwei gegensätzlichen Inspirationsorte, Berlin und Fehmarn, markieren zwischen 1912 und 1914 den Höhepunkt in Kirchners expressionistischem Schaffen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste Kirchner die Insel, die für ihn wohl eine ähnliche Bedeutung hatte, wie Tahiti für Gaugin, verlassen. In Berlin blieb er bis 1917. Dann begab er sich, von kriegsbedingten Angstzuständen, Medikamenten und Morphiumsucht schwer gezeichnet, ins Schweizer Exil, sprich ins Davoser Sanatorium.

Der in der Berliner Zeit offenkundig gewordene Stilwechsel Kirchners wird häufig mit dem Existenzkampf in der Großstadt assoziiert, die Straßenszenen mit Koketten und Dandys als pessimistische Kritik am Moloch Berlin. Mit diesem Bild will die Zürcher Ausstellung aufräumen. Denn Kirchner war vom Großstadtleben trotz der anfänglichen Enttäuschungen fasziniert. Er streifte stundenlang herum, vertrieb sich die Zeit in den Straßen, in Cafes, im Zirkus und vermutlich auch in Gesellschaft von Nutten. Und wo immer er hinging, hatte er ein Skizzenbuch dabei, in das er pausenlos hineinkritzelte. Er eignete sich die Stadt künstlerisch an. Mit seinen Gemälden, in denen er Figurengruppen mit Autos und zeitgenössischer Stadtarchitektur kombinierte, wurde er zu einem wegweisenden Interpreten des modernen Großstadtlebens. Im schlicht "Die Straße" betitelten Ölbild (1913) zeichnet sich die stilistische Weiterentwicklung in parallelen Strahlen und Schraffuren ab.

Malerei der Bewegung

Ernst Ludwig Kirchner kam in Berlin auch in Kontakt zur avantgardistischen Literatur und er lernte die Werke ausländischer Künstler kennen, die wie er nach neuen Ausdrucksformen suchten. So nahm er etwa interessiert zur Kenntnis, wie die italienischen Futuristen die Zeit als vierte Dimension einführten und sich an der simultanen Darstellung von Bewegungsabläufen versuchten. Denn auch für Kirchner waren Bewegung und Dynamik entscheidende Elemente im Schaffen. Nicht umsonst charakterisierte er selbst seine Malerei rückblickend als „eine Malerei der Bewegung“. Inhaltlich betrachtet wollte er seine Bilder als „Gleichnisse“ und nicht als „Abbildungen“ bewertet wissen.

Naturidyll

Im Kontrast dazu die in den Sommermonaten auf Fehmarn gemalten idyllischen Landschaften und nackten Badenden. Hier, auf der Insel, offenbarte sich ein ganz anderes Raumgefühl als in der Stadt. Alles war weit, menschenleer, natürlich. In der von Sandra Gianfreda (Kunsthaus Zürich) und Magdalena M. Moeller (Brücke-Museum, Berlin) brillant kuratierten Schau, wechseln sich Berlin und Fehmarn mit ihren Gegensätzen von urbaner Hektik und insularer Abgeschiedenheit in einem chronologischen Parcours spannungsvoll ab. Auch der „Neuanfang“ Kirchners in Davos wird noch mitberücksichtigt. Geübt an den Berliner Häuserschluchten, entwickelt Kirchner mit den Davoser Gemälden einen ganz neuen Blick auf die alpine Landschaft.
Begleitet wird die Ausstellung von einem im renommierten Hirmer-Verlag erschienenen 272 Seiten starken Katalog mit rund 220 Abbildungen und informativen Texten unter anderem von Günther Gercken, Sandra Gianfreda und Karin Schick.

Großstadtrausch/ Naturidyll. Kirchner – Die Berliner Jahre
Kunsthaus Zürich
Bis 7. Mai
Di/Fr–So 10–18, Mi/Do 10–20
www.kunsthaus.ch