Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Karlheinz Pichler · 09. Jän 2017 · Ausstellung

Zwischen Form und Leere, zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit - Fotografien aus elf Werkserien der südkoreanischen Fotokünstlerin Jungjin Lee im Fotomuseum Winterthur

In einem buddhistischen Text heißt es: „Form ist nichts anderes als Leere und Leere ist nichts anderes als Form“. Diese Beschreibung trifft ohne Abstriche auch auf die Fotografien der südkoreanischen Fotokünstlerin Jungjin Lee zu, von der im schweizerischen Fotomuseum Winterthur derzeit elf Werkgruppen zu sehen sind, die in den vergangenen 20 Jahren entstanden sind.

Jungjin Lee ist eine Pendlerin zwischen Ost und West, zwischen Seoul und New York. Ihre Fotografien wirken wie monochrome Gemälde, bestechen durch ihre Abstraktion und Sinnlichkeit, durch ihren sehr persönlichen Umgang mit Leere, Raum und Gegenstand. In den USA werden ihre Werke hoch geschätzt, in Europa ist sie noch kaum bekannt. Ihre Ausstellung im Fotomuseum ist die erste museale Präsentation ihres Oeuvres in Europa.

Lee, die sich ursprünglich intensiv mit Kalligrafie und Keramik beschäftigt hat, hat eine eigenständige Bildsprache entwickelt, in der Sensibilität und Intuition im Vordergrund stehen. Im sogenannten Liquid-Light-Verfahren trägt Lee mit grobem Pinsel flüssige, lichtempfindliche Emulsion auf handgeschöpftes koreanisches Reispapier auf. Anders als bei industriell gefertigten Fotopapieren brillieren ihre von Hand entwickelten Fotoabzüge nicht mit makellos verschlossenen Oberflächen, sondern lassen durch den unkontrollierbaren Prozess Unsauberkeiten sichtbar werden, die den Arbeiten einen fast schmudeligen Duktus unterschieben. Die analogen Abzüge mit bewusst zugelassenen Fehlstellen werden allerdings nicht als mangelhaft gesehen, sondern beschäftigen sich mit dem vermeintlichen Wahrheitsanspruch der Fotografie.


Lee absolvierte ihr Studium der Fotografie in New York. Sie stellte fest, dass ihre Kommilitonen fortwährend von Ideen sprachen, während man in Asien ein viel höheres Gewicht auf den Ausdruck von Gefühlen setzt. Letztlich war es die Landschaft, die Lee auf der Suche nach dem Motiv, das ihr entspricht, zu sich selbst finden ließ. Sie bereiste den Südwesten der USA, wo sie in der Wüste das fand, wonach sie suchte: die Landschaft und die Kräfte, die in ihr wirken.

 

Menschenentleert

 

So entstand zwischen 1990 und 1994 der Zyklus „American Desert“. Daraus ist eine zentrale, vierteilige Arbeit zu sehen. Die Wüstenbilder zeigen kahle, menschenleere Landschaften oder Kakteen. Die Künstlerin lässt sich dabei von ihrem Inneren leiten, findet die Motive intuitiv. Die Reduktion ist radikal, sowohl hinsichtlich der formalen Anlage der Bilder als auch in Bezug auf die Beschränkung auf ganz wenige Farbtöne, die zwischen Schwarz, Weiss und Braun changieren. Gerade diese Reduktion auf das Allerwenigste implementiert den Fotografien eine unvergleichlicheTiefe. Zu der Zeit, als die „Desert“-Bilder entstanden, arbeitete Lee als Assistentin des legendären Fotografen Robert Frank. Frank beschrieb Lees fragmentarisch poetischen Bildserien einmal als „landscapes without the human beast“ und bezog sich damit auf die fast vollständige Abwesenheit des Menschen im Werk von Jungjin Lee.

 

Lee entwickelt die meisten ihrer schwarz-weißen Fotografien auf Hanji, dem traditionellen handgeschöpften Reispapier aus Korea. Die oft großformatigen Werke besitzen eine ungewöhnlich starke malerische Qualität und spiegeln das handwerkliche Geschick und Feingefühl der Südkoreanerin wider. Unabhängig davon, ob sie Gebäude, Landschaften oder Alltagsobjekte ins Visier der Kameralinse nimmt, Lees Bilder hängen stets Eindrücke von Menschlichkeit, Einsamkeit, Weite und auch Melancholie an.

 

Im Spannungsfeld

Lee bewegt sich immer wieder im Spannungsfeld zwischen der amerikanischen und der asiatischen Kultur. Das verraten ihre Arbeiten, die wechselweise in den Vereinigten Staaten und in Korea entstanden sind. Mit "Pagodas" (1998) und "Thing" (2003–2006) entstanden zwei bedeutsame Werkreihen, in denen sie Objekte mithilfe von Schablonen sowie einer weichen und sehr präzise geführten Lichttechnik freistellte. So wird beispielsweise die nach oben sich verjüngende Pagode von fünf Geschossen aus Ziegelsteinen durch einen Kunstgriff Lees an ihrem Fundament gespiegelt.
Manchmal scheint es, als suche Lee den Zustand von vollständig leeren Landschaften und sinnentkoppelten Motiven, um in anderen Serien wieder ans Leben anknüpfen zu können. Zum Beispiel bei der Serie "Wind" (2004-2007). Aber auch in den Zyklen "Ocean" (1999) und "On Road" (2000–2001) gelingen der Künstlerin eindringliche Aufnahmen, von denen eine fast meditative Gefasstheit ausgeht.

Begleitend zur Ausstellung ist eine Publikation im Spector Verlag erschienen, mit einer Einleitung von Thomas Seelig sowie Beiträgen von Lena Fritsch, Hester Keijser und Liz Wells.

Jungjinn Lee: Echo
Fotomuseum Winterthur
Bis 29.1.
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotomuseum.ch