Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
emmafechtig · 27. Mär 2017 · Ausstellung

WER WOLLEN WIR SEIN? - Thementag im vorarlberg museum

Die Themen Flucht, ineinandergreifende Perspektiven und Utopien wurden beim hochkarätig und international besetzten Symposium, das als Teil der Ausstellung „Soziale Skulptur“ von Ines Agostinelli im vorarlberg museum stattfand, beleuchtet. Wissenschaftler, Sozialarbeiter und Betroffene versuchten auf die elementare Frage: Wer wollen wir sein, eine Antwort zu finden.

Die Künstlerin Ines Agostinelli zitierte zu Beginn Joseph Beuys, nach dem „wir alle Künstlerinnen und Künstler sind, die an der Sozialen Skulptur Gesellschaft mitwirken“. In Workshops, unter anderem auch an Schulen, regte sie in den vergangenen Monaten über 600 Menschen dazu an, sich ein „eigenes Bild vom Fremden“ zu machen. Sie stellte fest, dass die Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung zweigeteilt sind. So handle ein Teil aus der Haltung: „Ich habe genug zum Leben“, und der andere Teil handle aus dem Mangel nicht genug zu haben. Die Frage: Welche Grenzen des menschlichen Handelns gibt es, übergab sie an den ersten Vortragenden des Thementages, Christoph Frei, Leiter der Studiengänge International Affairs sowie der Taskforce Migration an der Universität St. Gallen.

Menschheitsgeschichte


Seine Gegenfrage
lautete: „Was wissen wir wirklich über das Phänomen Migration?“ Emotionale Bilder, ohne persönlichen Bezug, würden unsere Vorurteile, im Negativen wie im Positiven steuern. Mangelndes Wissen, auch von Seiten der Politik, mache uns manipulierbar. „Sesshaft zu sein ist nicht die Regel. Die Geschichte ist voll von Migration, sie ist eine regelmäßige Erscheinung der menschlichen Existenz. Mose, der Auszug aus Ägypten, Maria als Schwangere auf Herbergssuche - die Bibel ist voller Migrationsgeschichten“, so seine leidenschaftliche Einführung zum Thema Flucht. Er erläuterte, dass prozentuell gesehen, die meisten Migranten nicht aus Furcht um ihr Leben emigrieren, sondern sich freiwillig auf den Weg machen würden, um ein besseres Leben zu finden. Erst im 19. Jahrhundert sei ein ganzer Exodus aus Europa nach Amerika unterwegs gewesen und erst als die Amerikaner keine weiteren „halbverhungerten Ausländer“ mehr aufnehmen wollten, wurden Einreisepapiere und verschärfte Einreisebestimmungen eingeführt. Heute sind in Staaten wie Dubai hoch betuchte Ausländer ebenso willkommen, wie Menschen aus Indonesien oder China, die als billige Arbeitskräfte Verwendung finden. Japan verweigert jegliche Einwanderung und in Australien und Kanada gibt es ein Punktesystem, das zahlungskräftigen oder jungen, arbeitsmarktinteressanten Menschen die Einreise erlaubt. Zu den Fragen: Wie kann Migration human gesteuert werden und wozu sind wir verpflichtet, verwies der Vortragende auf die Einzelbiografien, die entscheidend betrachtet werden sollten.

Wir und die Anderen


Heinz Hauser, Ehrenpräsident des Schweizerischen Instituts für Außenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung, sprach über wirtschaftliche Gründe als primären Auslöser für Flucht und
Migration. „Die einen kommen aus Algerien und die anderen aus Deutschland“, bemerkte er und ergänzte unter anderem: „Solange ein echtes „Wir-Gefühl“ fehlt, befinden wir uns in einem individuellen Wertekonflikt. Einerseits möchten wir mehr tun, um zu helfen, andererseits wollen wir die Attraktivität für Einwanderer nicht erhöhen und stellen uns ständig die Frage: Wieviel verträgt das System?“ Das „Wir-und-die Anderen-Gefühl“ entscheide über die Andersbehandlung. „Je mehr Hürden aufgebaut werden, umso mehr Schlepperdienste wird es geben“, so seine Warnung: Wenn sich die Einreisewilligen einfach bei der Botschaft bewerben könnten, wäre das Schlepperwesen sofort erledigt.“ Die Spannungen auszuhalten, die sich zum komplexen Thema ergeben würden, sei das Gebot der Stunde. Wichtig sei es überdies, die Diskussion aufrecht zu erhalten und niemanden auszugrenzen, auch nicht die Aktivisten der rechten Strömungen.

Mutterland und Vaterland


Im Gespräch mit Yara Salem, Designerin aus Damaskus, die seit gut einem Jahr in Hittisau lebt, erfuhr der Symposiumsbesucher viel über das Weggehen und Ankommen.
„In Kontakt zu kommen“, sei das Entscheidende so die junge Frau zu Beginn ihrer Erzählungen, in denen sie auch darauf hinwies, dass nicht alle Flüchtlinge gleich seien. Es gebe auf beiden Seiten „Gute“ und „Böse“. Anschaulich erzählte sie über ihre Flucht, die Bewusstwerdung wie kostbar ein Pass ist, und dass ein Visum für sie eine Verletzung der Menschenrechte darstellt. Sie träume von einer Welt ohne Grenzen und davon in Österreich bleiben zu können: „Ich habe mein Mutterland (Damaskus) verloren und ein Vaterland gefunden, ich habe jetzt beides.“

Wie sozial wollen wir sein


Arno Dalpra, Diplom-Sozialarbeiter und Psychotherapeut, sprach von der Flucht als einem archaischen
Reflex, ein Reagieren auf Bedrohung. „Gewalt ist eine Entscheidung“, so seine klare Aussage. „Gewalt ist eine Möglichkeit auf Missstände aufmerksam zu machen, und auch eine Flucht in die Einfachheit von Mauern.“

Margaritha Matt, Diplom-Sozialarbeiterin und Leiterin des Hauses Said in Bregenz, eine Unterkunft für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge, schilderte ihren ebenso herausfordernden wie bereichernden Alltag. „Wir begegnen einander mit Höflichkeit, Respekt und Wertschätzung, das sind die Voraussetzungen für das gute Gelingen des Zusammenlebens. Wir helfen den jungen Männern den Alltag zu organisieren“, so die engagierte Fachfrau. Sie berichtete über die wertvolle Arbeit der ehrenamtlichen Helfer, über Sprachkurse und Bildungsprojekte, die aber leider niemals die fehlende Bildung der Jugendlichen wettmachen können. Auch das Thema Sexualität wurde angesprochen. Die Sozialarbeiterin zeigte auf, dass die jungen Männer durchaus auch von Menschen aus Vorarlberg als Sexualobjekte gesehen und Geld für eindeutige Dienste angeboten bekommen würden. Sie wies außerdem darauf hin, dass die Caritas keineswegs die Handys der Flüchtlinge bezahle und wie wichtig es für die Jugendlichen sei, online zu sein. Es bedeute am Geschehen teilhaben zu können, mit der Familie in Verbindung - einfach am Leben zu sein. Wirklich betroffen mache sie die angedachte Schließung des Hauses SAID, was übersetzt heißt: „Der Glückliche.“