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Karlheinz Pichler · 06. Jul 2016 · Ausstellung

Warum Schafe, die im Gebirge leben, häufig den Rappel kriegen - Boris Mikhailov mit einer alten und einer neuen Werkserie im Flatz Museum

Der aus dem ukrainischen Charkow stammende Fotokünstler Boris Mikhailov befasst sich in seinen Bildern mit den Bedingungen menschlicher Existenz. Seine meist politischen Arbeiten sind von einer drastisch kompromisslosen und anarchischen Grundtendenz, aber stets auch von einem hintersinnigen Humor infiltriert. Heute zählt der mittlerweile 78 Jahre alte Autodidakt als schonungsloser Chronist der ehemaligen Sowjetunion und der Zeit nach ihrem Zusammenbruch zu den international wichtigsten Fotokünstlern der Gegenwart.

Für den notorischen Bilderzeuger Boris Mikhailov endet das Experiment mit der Fotokunst genau dort, wo die politische Botschaft gefährdet ist. So lehnt der Fotokünstler etwa strikt den Einsatz der Bildbearbeitungssoftware Photoshop ab, weil es die Wahrheit töte, wie er selber sagt.

In der Ausstellung „Structures of madness, or why shepherds living in the mountains often go crazy“, die gerade im Dornbirner Flatz Museum angelaufen ist, kombiniert Kurator Gerald Matt Bilder aus „Yesterday's Sandwich“, einer der bekanntesten Werkserie Mikhailovs, die noch am Anfang seiner Karriere in der Sowjetunion Ende der 1960er und Anfang der 1970er-Jahre entstanden ist, mit einem bislang noch nahezu unbekannten Werkkomplex des Künstlers, entstanden 2011 bis 2012, von der sich auch der Titel der Ausstellung ableitet.

Butterbrote“


Gerade am frühen Zyklus „Yesterday's Sandwich“ lässt sich bestens die von Mikhailov gerne angewendete Praxis der surrealistischen Überlagerung der Fotografien nachvollziehen. Beispielsweise führt er Kühe, die bestiegen werden, mit Kirmesszenen und Bildern von Müttern mit Kindern auf dem Arm zu schrägen Kaleidoskopen ländlicher Lebensbedingungen zusammen. Mit dieser Serie verbinde sich der Glaube an das Universum, sagt der ukrainische Fotokünstler. In diesen „Sandwich“-Arbeiten spiegelt sich bereits Mikhailovs unverblümter Blick und Haltung auf die Welt. Einerseits erfasst er darin präzise, dokumentarisch und exemplarisch, den Alltag und dessen Verwerfungen, andererseits zieht er damit auf künstlerische Art ein gleichsam poetisches, ironisches sowie verfremdetes „Theatrum mundi“ (Matt) auf. Der ukrainische Fotokünstler nennt diese Überblendungen, diese unwirklichen Szenen, in denen er vor allem Frauen in alltäglichen Situationen mit surreal anmutenden Landschaften und seltsamen Szenerien kombiniert, liebevoll „Butterbrote“.

Felswände als Motivlieferanten


In dem neuen Komplex „Structures of madness, or why shepherds living in the mountains often go crazy“ verbindet Mikhailov Farbfotografien, die er von rötlich-braunen Felsformationen in Ägypten gemacht hat, mit Stift- und Kreide-Zeichnungen, die er aus diesen Felsmotiven abgeleitet hat. Zu dieser Serie notierte Mikhailov, dass einmal jemand gesagt habe, dass Schweizer Schafe häufig verrückt spielten. Er selber meint dazu, dass müsse wohl daran liegen, dass die Schafe tagsüber die realen Berge sehen, aber am Abend sich alles transformiere. Die Realität ändere sich oder verschwinde einfach, Phantombilder würden aus der Dunkelheit auftauchen, Versteinerungen von Lebewesen, die diese Berge dereinst bewohnt hätten. Wer die in den tischartigen Vitrinen im Flatz Museum gezeigten Arbeiten sieht, weiß, was gemeint ist. Dem sezierenden Blick Mickhailovs folgend, kann der Betrachter in den Felsformationen tatsächlich die eigenartigsten Figurationen und Formenspiele erkennen, die der Künstler auf dem jeweils daneben platzierten Blatt Papier zeichnerisch extrahiert hat.

Zwischen den Stimmungen changieren


Grundsätzlich oszillieren die Arbeiten von Mikhailov zwischen Trauer und Witz und zwischen Melancholie und bitterbösem Sarkasmus. Und es ist genau dieses Changieren zwischen den unterschiedlichen Stimmungen, die bei den Betrachtern die große Wirkung von Mikhailovs Arbeiten hervorruft.

Der ausgebildete Ingenieur war nach seinem Studium bei einer Firma für Raketenbau tätig und schlug seinem Vorgesetzten Mitte der 1960er-Jahre vor, einen Film über die Produktion zu drehen. In dieser Zeit entstanden seine ersten Werkserien wie etwa „Susi und die anderen“ (1960-1970) und „Die Stadt/Schwarzes Archiv“ (1968-1979). Allerdings nutzte er den Zugang zum firmeneigenen Labor auch für die Entwicklung privater Aktfotos und verlor nach Intervention des russischen Geheimdienstes KGB aufgrund dieser als pornografisch gewerteten Bilder seinen Job. Damit begann seine Laufbahn als freier Fotograf und Künstler. In den 1990er-Jahren erhielt er ein Stipendium des DAAD in Berlin und hat seitdem seinen Lebensmittelpunkt in Berlin, dessen öffentliches Straßenleben er in den letzten Jahren häufig thematisierte. Allerdings kommen diese Berliner Werke nicht an die Intensität seiner früheren ukrainischen „Lumpenproletariat“-Arbeiten mit der melancholisch-traurigen Stimmung und ihrem sarkastischen Witz heran.

Flatz Museum setzt Fokus auf Fotografie


Der Kurator der Dornbirner Mikhailov-Schau, der langjährige und dann abgesägte Direktor der Kunsthalle Wien Gerald Matt, hat mit dem heute in Berlin lebenden und arbeitenden ukrainischen Fotokünstler schon für das Projekt "1989" in der Kunsthalle Wien und der Villa Schöningen in Berlin Potsdam zusammengearbeitet. Mit dem Einblick in das fotografische Schaffen von Boris Mikhailov feuert das Flatz Museum gleichzeitig auch den Startschuss zu einer ganzen Reihe von Ausstellungen zur zeitgenössischen Fotografie ab. Die Institution im Zentrum der Messestadt nimmt damit nichts weniger als eine Korrektur seiner Ausrichtung vor. Man wolle sich künftig als „Ort der Auseinandersetzung mit Positionen internationaler Fotokunst und aus der Region“ positionieren, heißt es seitens der Museumsverantwortlichen.

Boris Mikhailov: „Structures of madness,
or why shepherds living in the mountains often go crazy“
Flatz Museum, Dornbirn
Bis 1. Oktober 2016
Fr 15-17, Sa 11-17 u.n. Voranmeldung
www.flatzmuseum.at