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Kurt Bereuter · 09. Jun 2016 · Ausstellung

"The Nitty Gritty" - Fotografien von Heide C. Heimböck in der Juppenwerkstatt - Vernissagerede von Kurt Bereuter

Heide C. Heimböck, geboren 1971 in Au im Bregenzerwald, beschäftigt sich seit 1996 mit Fotografien. Als ausgebildete Architektin lagen ihre ersten Schwerpunkte im Bereich der Architekturfotografie, mehr und mehr rückte das Experimentelle ins Zentrum ihres Schaffens. Heimböck lebt heute mit ihrer Tochter in Schwarzach in Vorarlberg. Kurt Bereuter hat zu ihrer aktuellen Ausstellung in der Juppenwerkstatt in Riefensberg am 5. Juni folgende Vernissagerede gehalten.

Geschätzte Vernissagegäste, liebe Heide, liebe Juppenwerkstatt,
ich freue mich, dass ich heute hier in dieser schönen und sehr ansprechenden Juppenwerkstatt eine kleine Reden halten darf. Eine kleine Rede zu einer Ausstellung in deren Mittelpunkt eine Juppe steht. Die Juppe der Mama von Heide Heimböck, die Hochzeitsjuppe.
„Fernab von aller Strenge des jüpplerischen Regelwerks zeigen die Bilder der Ausstellung schlicht die Poetik im Wesen der Tracht. Losgelöst vom eigentlichen Gegenstand, wird der Blick durch den starken Fokus wieder weit und gleitet ab ins Nitty Gritty, ins Wesentliche“, so die Künstlerin selbst zur Ihren Werken.  
Lassen Sie mich drei Perspektiven zu dieser Ausstellung herausgreifen und in einander verweben, ohne dass ich sie vorab benenne:
Die Künstlerin spricht von einem jüpplerischen Regelwerk, und das kann verdammt streng sein. Verdammt streng in mehrfacher Hinsicht. Einerseits dahingehend, dass die Juppe genau eine Juppe ist, so wie sie als die Juppe zu einer bestimmten Zeit definiert wird und doch ist die Juppe als Kleidungs- und Kulturstück immer ein Stück, das sich entwickelt hat und dann, ja dann plötzlich stehen bleiben soll, ja gerade stehenbleiben muss, wenn es denn eine richtige Wälder Juppe sein soll. Es ist dann alles bis ins kleinste Detail vorgezeichnet, vorgeschrieben. Das endet dann auch nicht vor dem Inhalt der Juppe. Wer darf wann welche Juppe in welchem Umfeld mit welcher Haltung aus- und vorführen? Sie haben vielleicht Museumsleiter Andreas Rudigier gehört, der im Zusammenhang mit traditioneller Tracht von der Signalwirkung sprach. Gleich von dreifacher Signalwirkung sprach er: Das Signal von Tradition und Bewahrung, dem der Fortschritt und die Veränderung entgegenstehen. Vom Signal der Zugehörigkeit, dem Wir-Gefühl das die Trägerinnen und Träger eint und an so etwas wie Heimat andockt. Und als drittes Signal, das mit dem zweiten ursächlich zusammenhängt, die Abschottung, der Ausschluss aus wenigstens diesem „Wir“, das durch das Zurschautragen dieses traditionellen Kleidungsstückes zum Ausdruck gebracht wird. Rudigier meinte das engt ein und schränkt das Denken ein und das kann nicht gut sein. Klar, seit mehreren Jahren gibt es auch Juppenträgerinnen, die die Zunge herausstrecken, die Tattoos haben und Alkohol trinken. Kleinere Juppenstreitereien soll es noch irgendwo geben, aber das talibanöse dürfte heute wohl verschwunden sein, auch wenn es Jüpplerinna geben würde, die strenger als der neue Papst seien. Von dieser Strenge berichtete unlängst auch unsere geschätzte Kunsthistorikerin Maria Rose Steurer-Lang in einer Randspalte des Reisemagazins Bregenzerwald: Der französische Besatzungscapitaine Jean Soubrier erzählte ihr von dieser beobachteten strengen Eleganz des Gewandes, die ihn gefesselt habe. Die Gesichter der Juppenträgerinnen seien ernst gewesen, deren Gang aufrecht und das habe ihn in Staunen versetzt. Zitat: „Ihm war als befände er sich auf einer Zeitreise weit zurück in die Vergangenheit.“ Es war das Jahr 1945. Maria Rose Steurer-Lang schreibt dann weiter, dass die Stärke der Juppe in der Wahrnehmung des Außergewöhnlichen und in der intuitiven Erkenntnis dessen liegt, was Tracht in ihrem Wesen ist. Was ist nun das Wesen dieser Tracht, was ist das Wesen dieser Juppe? Und da möchte ich noch einen Zugang wählen, der die Wahrnehmung des Außergewöhnlichen und die intuitive Erkenntnis dessen beschreibt, was das Wesen dieser Tracht wenigstens auch sein kann. Ich sage das nicht um Maria Rose zu korrigieren, sondern um sie zu ergänzen. So sagte die älteste Tochter der polnischen Zwangsarbeiterin Anastasia, die in der Nachbargemeinde aufgewachsen ist, dass für sie als Kind klar war, dass sie weniger wert waren als die anderen Kinder, dass sie Außenseiter waren, die Kinder der ehemaligen Zwangsarbeiterin. Und Zitat: „Am schlimmsten war, dass ich keine Wälder-Tracht bekam. Da war eine Trachtengruppe, wo die Mädchen und Buben eine Tracht bekamen und Tänze lernen durften und Wälder Lieder singen und die Tracht durfte man am Sonntag in die Kirche anziehen. Die habe ich nicht bekommen, weil ich keine richtige Wälderin bin und meine Mama nicht von hier war. … Ich bin wütend über die Haltung der Menschen, dass sie jemand so ausgrenzen ...“

Und so bleibe ich bei der entscheidenden Frage: Was ist nun das Wesen dieser Tracht, was ist das Wesen dieser Juppe, die in diesem Fall Modell gestanden hat? Das Wesen dieser modellgestandenen, modellgehangenen und modellgelegenen Juppe der gewöhnlichen Art, wenn ich flapsig fragen darf? Diese Fotos sind alles unbearbeitete Fotos einer, der, Wälder Juppe. Und doch erscheinen sie losgelöst vom Gegenstand der Juppe. Verfremdet, verschwommen, lichtgespielt bis zur Unkenntlichkeit des ursprünglichen Objektes. Der Blick wird vom Objekt frei so wie es die Gedanken des Betrachters werden. Kein Zweck mehr der Juppe, kein Sinn mehr des Abgelichteten, keine Regel der Jüpplerin bleibt erkennbar. Scheinbar losgelöst von der Juppe entsteht durch sie und mit ihr etwas Neues, das wir nicht erkennen, das es aber doch ist, das Kleidungsstück Juppe. Durch die Künstlerin wird der Blick auf die Juppe ein ganz anderer, die Künstlerin schaut viel genauer hin, als jede Juppenmächlerin es könnte und bedient sich dazu einer fotografischen Technik, die irgendwo zwischen Makroobjekt und Mikroskop angesiedelt ist. Und dazu kommt noch das entscheidende Erkennen von bis dahin Ungesehenem, ins Bild setzen und mit dem Licht arbeiten der Künstlerin, was dann diese ästhetischen Einblicke auf und in die Juppe ergeben, ohne auf deren Inhalt durchzusehen. Spannend bleibt es, eröffnet es den Blick auf das Wesen oder gar auf das Wesentliche? Es liegt am Betrachter.
Philosophisch gesehen, möchte ich sagen, die Juppe ist nichts, rein gar nichts, als ein Kleidungsstück mit Tradition und mit viel hineininterpretierten Meinungen, meinetwegen hineininterpretiertem Wissen. Hineininterpretiert von Generation zu Generation, von Forscher zu WissenschafterInnen und so weiter. Aber es ist ein Kleidungsstück das Schutz vor Einflüssen von Außen bietet und Schutz vor Einsichten auf den nackten Menschen und seinen Körper, der doch immer das Wesentliche darstellen sollte, nicht das Kleidungsstück. Und selbst wenn sie das Kleidungsstück entfernen, bleibt das Wesentliche immer noch unsichtbar, die Person im Sinne des Durchklingens seines Geistes, seiner Psyche, seiner sozialen Kompetenz. Und doch, Kleider machen nicht nur Leute im Sinne des sozialen Ansehens, sondern Kleider machen auch etwas mit Leuten, so wie es Andreas Rudigier wohl gemeint hat. Menschen verändern sich in der Kleidung, besonders wenn es uni-forme Kleidung ist. Der Soldat, der plötzlich auf andere Menschen schießt, obwohl er es kurz davor noch für unmöglich gehalten hatte, der Arzt im weißen Kittel, der die Kompetenz für den Körper des Patienten übernommen hat, der Musikant als eine Stimme im Orchester, der Rocker in seiner Lederschluta der zum Bruder des „Bruders“ wird, oder eben die Jüpplerin, die zur Botschafterin der strengen Tradition wird. Es ist immer noch derselbe Mensch, aber die selbe Person im Sinne des per sonare, des Durchklingens? Und das hat auch mit dem Blick von außen zu tun. Mit dem Blick auf das was wir in Gruppen sehen, mit denen sich diese Gruppen das Gefühl einer Einheit geben. Es ist ein Blick, wie er dem der Künstlerin entgegensteht. Ein Blick mit Distanz auf das Uniforme in dem die Menschen stecken und erst dadurch wird das Uniforme als solches erkennbar. Das Uni-forme ist gerade nicht die Vereinzelung des freiheitsverliebten autonomen Einzelnen. Denken Sie ruhig an Franz Michael Felder, wie er sich in Lindau neu einkleidete und heftigsten Widerspruch hervorrief. Wir könnten also durchaus feststellen, das Uniformierte wird nur über den distanzierten Blick auf mehrere Individuen als solches erst erkennbar und der Einzelne, die Einzelne, geht darin unter - bis wir wieder näher an ihn, an sie herantreten und die Brennweite verändern müssen um klar erkennen zu können. Wir nähern uns einer Perspektive wie sie Heide Heimböck angewandt hat. Immer näher, immer detailgenauer fokussieren, bis es das bloße Auge nicht mehr schafft. Und dann, dann kommen die Apparate ins Spiel, technische wie bei Heide, und solche des Denkens. Denken wir an jenen Menschen, den wir am meisten lieben und begehren. Wir kommen ihm immer näher, lernen immer wieder Neues, Unerwartetes kennen. Erschrecken, sammeln uns, gehen weiter weg, kommen vielleicht wieder zurück, vielleicht noch näher als je vorher, oder bleiben etwas weiter weg, um besser zu sehen, was denn der andere ist und was wir vom anderen meinen – oder gemeint haben – was er sei, oder gar sein sollte. Wir verändern permanent die geistige und psychische Brennweite und entdecken dabei immer wieder Neues, neue Winzigkeiten, die uns abstoßen oder erfreuen, und erkennen dann von weiter weg ein neues Ganzes, das wir als solches noch nicht wahrgenommen hatten und erschaudern zuweilen, zweifeln, vielleicht glauben zu verzweifeln, wenden den Blick ab, irgendwo andershin und vielleicht auch wieder zurück und lassen dabei zu Gunsten des Ganzen das Zoomen oder den Makrobereich einfach weg. Und denken wir an ein Liebesspiel: Je näher wir hingehen, mit dem Kopf, mit den Augen, desto kleiner machen wir die Augen, bis sie ganz geschlossen sind. Wenn der Kopf des Liebenden ganz angekommen ist, sind die Augen längst geschlossen, aber die Bilder, die sind da. Es sind Bilder aus dem Kopf, wie sie nicht der Realität entsprechen, sondern wie sie das Gehirn mit seiner Vorstellungskraft generiert und nach seinen Wünschen, im besten Fall, formt. Ich muss nicht aus dem Poesiealbum den kleinen Prinzen und sein Geheimnis zitieren: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, und tue es hiermit doch. Aber, das Herz sieht nicht, es lässt sich von den Sinnen leiten, lenken und beeinflussen - über das Gehirn. Das Gehirn ist das bildgenerierende Organ, nicht die Augen. Und daraus entwickelt sich die moralische Frage: Soll ich ganz hingehen um möglichst alles ganz genau, bis ins abscheulichste Detail zu erkennen, oder geben wir uns zufrieden mit einem Blick von weiter weg, der kein Detail eröffnet, das Detail geradezu ausblendet, aber das Ganze viel besser erkennen lässt, und vielleicht auch besser lieben lässt. Oder gehen wir so nah hin, bis das Ganze nicht mehr gesehen wird und überlassen es dem Gehirn, mit all seinen Macken, zu sehen, was es sehen will, ein Ganzes aus diesen vielen, vielen kleinen unsichtbaren Details zu kreieren, das es so nicht gibt, außerhalb unserer je eigenen Anschauung?
Wenn Sie die Bilder von der Heide anschauen, sie werden keine Juppe erkennen, sie werden nicht einmal erkennen, welches Detail der Juppe Modell gestanden, gehangen oder gelegen ist. Modell für eine perfekte Inszenierung von Licht, in dem Form und Inhalt zu einem Unkenntlichen verschwinden und etwas völlig Neues entstehen lassen, das mit der Juppe und deren Inhalt nichts, rein gar nichts mehr zu tun hat. Obwohl doch genau diese Juppe mit ihren Details Modell gestanden, gehangen oder gelegen ist. Licht, Schatten, Details jenseits der natürlichen Sehgabe lassen etwas entstehen, das Raum gibt, Neues zu sehen, Neues zu erkennen, Neues zu denken, weit, weit weg von der Juppe, weil die Künstlerin mit offenem Auge und offenem Objektiv diesen Raum dem Denken des Betrachters überlässt. Und wenn die Gedanken dorthin abgleiten, wo sie dieses Neue sehen, über Ihr Gehirn vermittelt glauben es zu sehen, ja gleichsam erst dadurch erschaffen, dann, ja dann kann es das Wesentliche sein: the Nitty Gritty. Aber geschaffen wird es dann nicht von der Künstlerin, sie ist nur eine Vermittlerin, geschaffen wird es vom Betrachtenden und seinem Gehirn. Der Blick wird weit bis tief in die innersten Gedankengänge, wo es bekanntlich sehr eng ist, wenn sie es denn zulassen und gleitet vielleicht ab ins Wesentliche - und das finden sie in sich, auch wenn es niemals die Realität ist, denn die gibt es nicht, es ist immer die je eigene Realität, vermittelt durch unser Gehirn, das vermutlich niemals eine tabula rasa, ein weißes Blatt, war, aber immer ein Sieb ist, das Realität macht, Realität konstruiert. Gehen sie näher hin, bleiben sie weiter weg, es verändert die Sicht auf die je eigene Realität und wir wissen nicht einmal, ob wir es mit einem freien Willen entscheiden können, wie weit oder nah der Brennpunkt liegt. Zu oft sind wir Getriebene, Verführte, Geleitete, aber immer Unvollkommene, denn so wie es das Wesentliche gibt, gibt es auch das Gegenteil dessen, das Unwesentliche.
Heide Heimböck macht uns ein Angebot mit ihrer gewählten Brennweite und lässt es zu, das Sie das Wesentliche in sich erkennen können, was von ihnen zu ihnen durch sie durch diese kunstvollen Bilder, bzw. des Einlassen auf deren Aus- und Eindrücke, spricht. Die Perspektive des Auges ist eine ganz enge, aber die des Geistes kann weit werden. Es liegt der Impuls im Bild, aber die Interpretation liegt im Betrachter, bei Ihnen. Ob Sie Abgleiten ins Wesentliche ... Ich wünsche es Ihnen und wünsche der Juppenwerkstatt alles Gute und viel Freude und Erfolg, und der Heide Heimböck, dass sie als Mensch und Künstlerin weiterhin ins Wesentliche abgleiten darf und dort manchmal auch verweilen darf.

Danke.

 

Aktuelle Ausstellungen in der Juppenwerkstatt

„Ja, ich will!“ Brauttracht im Bregenzerwald, Montafon und Kleinwalsertal
1. Mai bis 31. Oktober 2016

„The Nitty Gritty“ Fotografien von Heide C. Heimböck
6. Juni bis 31. Oktober 2016

www.juppenwerkstatt.at