Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Karlheinz Pichler · 30. Nov 2015 · Ausstellung

„Ich lebe im Schatten meines Hutes“ – Collagen und Objekte von Tomi Ungerer im Kunsthaus Zürich

Der 1931 in Straßburg geborene Tomi Ungerer ist mit Kinderbuchillustrationen, ironisch-sarkastischen Zeichnungen und Gouachen weltbekannt geworden. Das Kunsthaus Zürich zeigt den häufig auch als „schärfsten Strich der Welt“ bezeichneten Ungerer jetzt von einer bisher mehr oder weniger unbekannten Seite. Unter dem bezeichnenden Titel „Incognito" sind über 170 überwiegend unveröffentlichte Collagen, Zeichnungen und Objekte zu sehen, die zwischen den 1950er-Jahren und heute entstanden sind.

Ausstellungen seien für ihn immer ein wenig peinlich, sagt Tomi Ungerer, der gerade erst am 28. November seinen 84. Geburtstag feierte. Hintergrund ist, dass es sich bei seinen Illustrationen und schwarzhumorigen gezeichneten Kommentaren zumeist um Auftragsarbeiten handelt. Bei den Collagen ist dies anders. Sie zeigen die rein künstlerische Seite des dreisprachig (Deutsch, Französisch, Englisch) aufgewachsenen Elsässers. In ihnen findet er seine persönliche Befriedigung. Sie sind sozusagen selbstmotiviert.

Ungerer kommt von der Sprache her. Dekonstruieren und neu Zusammensetzen entspricht seinem Naturell. Die Collage vermittelt im Prozess der künstlerischen Produktion ein starkes Gefühl der Selbstermächtigung. Tomi Ungerer rekombiniert mit technisch geringem Aufwand, aber intellektuell scharfem Assoziationsvermögen einzelne Bestandteile und ruft unter diesen Umständen völlig andere Bedeutungen hervor. Seine Schöpfungen erhalten nicht die eine, jede andere Interpretation zurückweisende Botschaft. Mehrdeutigkeit kennzeichnet seine Arbeiten, und statt auf Harmonie setzt er auf Spannung. Angeeignet hat sich der Künstler die kreative Technik der Collage bereits in den 1950er-Jahren, noch bevor die Kunstgeschichtsforschung Ende der 1960er-Jahre ein gehäuftes Auftreten von Collagen und Material-Montagen in den unterschiedlichsten Techniken konstatierte. Bei Ungerer wurden die Überschneidungen von angewandter und bildender Kunst im Laufe der Jahre immer offenkundiger.

Der Satire zugewandt


Ungerer ist rastlos, geht wie eine Biene von einer Blüte zur nächste, wie er selber sagt. Und er pflegt viele Stile. In jüngster Zeit hat er sich stark der Satire zugewandt. Und die Collage hat sich immer mehr in den Vordergrund geschoben. Nicht zuletzt auch wegen gesundheitlicher Gründe. Er geht am Stock und ist gezwungen, einen Hut zu tragen. Seit Jahren plagen ihn, auch krebsbedingt, Augenbeschwerden. Ein Auge habe er bereits verloren, bekannte er bei der Medienkonferenz zu seiner Ausstellung. Alles Grelle schmerze ihn. „Ich lebe im Schatten meines Hutes“, bekundet er in liebevoller Selbstironie. Er könne keine Distanzen mehr erkennen und wisse nicht, wann sein Aquarellpinsel das Papier berührt. Daher hat er sich in den letzten Jahren intensiv auf die Collagen und Objekte fokussiert, denn dafür braucht es keinen Pinsel. Aufgrund einer Polyneuropathie, einer Erkrankung des peripheren Nervensystems, spüre er auch den Boden kaum mehr unter seinen Füßen. Sein Stock verfügt über eine Fahrradglocke. Wenn sie erklingt, weiß man, „Achtung, da kommt Tomi Ungerer!“.

Hinter dem Tischchen, an dem Ungerer während der Medienkonferenz saß, hing das Blatt „Mir geht's gut!“ (1980/1990). Die Tuschezeichnung in Schwarz und Farbe zeigt einen runden Männerkopf. Ein Auge ist verklebt, über den Kopf zieht sich eine Narbe, das Gesicht aber lacht, die Wangen sind rot. Das sei nicht etwa ein Selbstporträt, sagte Ungerer, gleichwohl nimmt es sich wie eine Paralbel auf ihn selbst aus. Versehrtheit und Lebensfreude gehen bei diesem Künstler Hand in Hand. Ihm gehe es gut, auch wenn es ihm schlecht gehe, hält der pessimistische Optimist fest.

Pessimismus neben strotzendem Leben


Müsste er die Zukunft darstellen, würde er ein schwarzes Quadrat malen, meint der Elsässer, der seit 1976 in einem Haus an der Küste von Irland lebt. Denn „diese schmutzige, lausige Welt“ sei leider nicht zu ändern. Sein Pessimismus, vielfach kombiniert mit schwarzem Humor, spricht denn auch aus vielen der Collagen und Objekte. Dennoch strotzen die Arbeiten vor Leben, denn Ungerer schöpft seine Geschichten immer aus der Wirklichkeit, zerschneidet und kombiniert Fotografien, setzt sie, angereichert mit Zeichnungen und Wörtern, zu neuen Welten zusammen. Zu höchst satirischen, surrealen zumeist. Zu solchen, die nicht immer leicht zu entschlüsseln sind.

Das Lebenswerk Ungerers ist enorm. Mit dem „Musée de la Ville de Strasbourg“ gibt es seit acht Jahren auch ein eigenes Ungerer-Museum. Und auch in der berümten Sammlung Würth ist sein Werk stark präsent. Gerade letztere hat es dem Künstler durch eine Vielzahl von Ankäufen in den letzten Jahren ermöglicht, finanziell unabhängig und frei zu produzieren. Von Würth sind denn auch viele der bislang unbekannten Werke in der Schau. Mehr als die Hälfte der Exponate stammt allerdings vom Künstler selbst. Die Arbeiten für die Ausstellung ausgewählt hat übrigens die Kuratorin Cathérine Hug in direkter Zusammenarbeit mit dem Künstler sowie seinem Zürcher Verleger Philipp Kehl. Dessen Diogenes Verlag bringt seit den 1960er-Jahren Ungerers Bücher heraus. Er hat auch den zu dieser Ausstellung erschienenen grandiosen, über 400 Seiten umfassenden, dreisprachigen Katalog publiziert.

Kuratorin Hug hat die Werkschau in zehn Kapitel unterteilt. Auf polemisierenden Darstellungen von Mann und Frau folgen Stadt- und Landschaftsansichten, anschließend wird dem Ornamentalen und Seriellen als formaler Metapher der Gesellschaftskritik ein eigener Bereich gewidmet. Skulpturen und Akzente setzen in der Schau einen speziellen, überraschenden Akzent. Die wohl umfangreichste Themengruppe setzt den menschlichen Körper in Szene - fragmentiert und verletzlich, als Fetisch und Objekt der Begierde. Nicht nur für Ungerer-Freaks ist die Zürcher Ausstellung eine große Bereicherung. Die tiefsinnige Schärfe, die Ungerers Illustrationen und Texte auszeichnet, spricht auch aus den Collagen und Objekten. Und wenn Ungerer sagt, falls er irgendwo eine Lunte sehe, dann entzünde er diese auch, so gilt dies erst recht auch für diese bislang im Verborgenen geblühten Werke, die jetzt im Kunsthaus ausgerollt sind.

 

Tomi Ungerer. Incognito
Kunsthaus Zürich
Bis 7. Februar 2016
Fr-So/ Di 10-18, Mi/Do 10-20
www.kunsthaus.ch