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Christina Porod · 16. Nov 2015 · Aktuell

Eine Welt, die Helden brauchte – Die Festrede der Philosophin Ágnes Heller anlässlich der Enthüllung des Widerstandsmahnmals in Bregenz

Am 14. November wurde am Sparkassenplatz in Bregenz das von Nataša Sienčnik gestaltete Deserteurs- und Widerstandsmahnmal enthüllt. Ágnes Heller hielt die Festrede. Heller, geboren 1929 in Budapest, ist Überlebende des Holocaust. Sie studierte Philosophie an der Universität Budapest und wurde 1955 promoviert. Nach jahrzentelanger politischer Unterdrückung und wissenschaftlicher Einschränkung emigrierte Heller 1977 nach Australien, wo sie in Melbourne Soziologie lehrte. 1986 wurde sie Hannah Arendts Nachfolgerin auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorate. Im Anschluss folgt ihre Festrede:

In Brechts Drama „Galilei“ klagt der erschütterte Galilei mit den folgenden Worten über seine Zeit: „Unglücklich sind die Zeiten, die keine Helden haben!“ Worauf sein junger Freund antwortet: „Unglücklich sind die Zeiten, die Helden brauchen!“ Dieses Mahnmal, dieses Denkmal spricht über Menschen, die in einer solchen Zeit lebten, die Helden brauchte, doch sehr wenig Helden hatte. Es steht für die Ausnahme, nicht für die Regel.

Was ist ein Held? Wer ist ein Held?


Platon glaubte einst, dass das Wort Heros (Held) vom Worte Eros (Liebe) stamme. Schlechte Philologie, doch gute Philosophie. Heldentum hat wahrlich viel mit Liebe zu tun. Menschen, die man Helden nennt, opfern etwas, das für sie wesentlich ist, für etwas, das noch wesentlicher ist, was sie am meisten lieben. Was ist im Allgemeinen wesentlich? Reichtum, Ruhm, Position, Freiheit des Leibes, Tradition, Anerkennung, Leben. Was lieben sie am meisten, was opfern sie nie? Freiheit des Geistes, Kern ihrer Persönlichkeit, ihre moralische Überzeugung, ihre Ideen. Wofür opfern sie all dies? Für ihr Volk, ihre Familie, für ihre Ideen, Gedanken, für ihre eigene Persönlichkeit, für andere Menschen, für Gott. Das heißt: für eine Liebe, ihre größte Liebe, die alle anderen Arten ihrer Lieben übertrifft.

Beinahe in allen Zeiten gibt es ein allgemein anerkanntes Modell des Heldentums. In beinahe allen Zeiten sind die meistgeehrten Helden Krieger, die viele Feinde in vielen Schlachten getötet und den Sieg mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Liebe dieser Helden ist eine geteilte, eine gemeinsame, sozusagen obligatorische Liebe, die man von allen Männern einer Gemeinschaft erwartet. Diese Liebe ist nie die Ausnahme, doch immer die Regel. Manchmal schätzen wir noch heute einige dieser Helden hoch, doch manchmal finden wir sie eher komisch, wie einen Mucius Scaevola, der seine Liebe zu Rom damit bewies, dass er seinen Arm ins Feuer streckte.

Doch auch die besten dieser Helden haben nichts zu tun mit den Helden, deren Lobrede ich heute halte. Nicht so sehr wegen der Verschiedenheit der Objekte ihrer Liebe, denn manche von ihnen wollten unter anderem auch die Ehre eines geliebten Vaterlandes schützen. Doch die Taten, die diese Liebe zum Ausdruck brachte, waren wesentlich verschieden. Ihre Liebe wurde in ihrer eigenen Gemeinschaft nicht geteilt. Sie waren nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Sie waren nicht von ihren Mitmenschen hochgeschätzt, nicht einmal verstanden, manchmal eher verhasst, verachtet oder als Verrückte behandelt.

Philosophen ist dieses Gegenmodell wohl bekannt. Unser Held war von Anbeginn Sokrates: ein Mensch, den seine eigene Stadt zum Tode verurteilte, weil er nicht die Götter der Polis ehrte, weil seine Ideen seinem Gewissen angemessen waren, weil er seiner Idee, seinen Gedanken, seinem Gewissen treu blieb. Dies tat auch Giordano Bruno. Sie waren die Ausnahme, nicht die Regel. Sie sagten nicht: „Ja, gewiss, ich tue, was alle von mir erwarten“, sondern: „Ich tue nicht, was man von mir erwartet, denn ich erwarte von mir selbst etwas anderes, etwas, das die Stimme meines Gewissen mir befiehlt, meinen Ideen angemessen.“

Tapferkeit hat viel mit Treue zu tun. Denn Liebe setzt auch Treue voraus, Treue für den Geliebten oder die Geliebte. Doch, muss ich wieder einmal fragen, wem gilt diese Liebe? Diese Treue? Und wie drückt man diese Liebe aus?

Wer ist tapfer? Wer ist ein Held?


Man kann Galilei zustimmen: Es sind schlechte Zeiten, die keine Helden haben. Doch kann man auch dem Schüler zustimmen: Es sind schlechte Zeiten, die Helden brauchen. Doch was ist Heldentum in den schlechtesten der Zeiten? Wer sind Helden in den schlechtesten der Zeiten?

Sie können die für Wahrheit und Freiheit kämpfenden Frauen oder Männer sein, ähnlich manchen wohlbekannten und heute hochgeschätzten Helden des Glaubens wie Thomas Morus oder Jan Hus. Sie können auch einfach anständige Menschen sein. Denn es gibt Zeiten, in denen ein anständiger Mensch zum Held wird, weil die Zeiten Anständigkeit mit dem Tod bestrafen können, Zeiten, in denen man anständige Menschen als Verrückte, Geisteskranke auslacht. Zeiten, in denen die Wertetafel auf dem Kopf gestellt wird, in denen ein Mensch, der keinen Meineid schwört, der den Unschuldigen zu töten verweigert, der seinem Mitmenschen hilft und dessen Leben rettet, hingerichtet wird. Es gibt solche Zeiten, in denen Fahnenflucht keine Sünde ist, sondern Flucht vor dem ungerechten Kriege, nicht Zeichen der Feigheit ist, sondern Tapferkeit und Mut verlangt.

Unter diesem Mahnmal/Denkmal ehren wir heute Menschen, die Namen hatten. Wir ehren Menschen, deren Namen wir jetzt, nach langer Zeit, kennengelernt haben. Doch wir ehren auch Menschen, deren Namen wir nicht kennen. Mit diesem Denkmal ehren wir auch die vergessenen, die unbekannten guten Menschen, denen so viele zum Tod Geweihte das Leben verdanken. Die ein Stück Brot von ihrem Munde sparten, um es einem anderen zu geben, die den Flüchtlingen mit Rat und Tat halfen, die einen Brief ins Gefängnis schmuggelten, die einen Flüchtling warnten, nicht in die Richtung, aus der Gefahr drohte, zu gehen, sondern einen anderen Weg einzuschlagen, die sich weigerten, in die verlassene Wohnung einer Vertriebenen einzuziehen. Sie taten es, weil das für sie natürlich war – und das Gegenteil unnatürlich.

So ehren wir Menschen, deren Namen und Taten wir kennen, aber auch namenlose gute Menschen. So ehren wir kämpfende Menschen, die einer starken Idee folgten, wie auch andere, die einfach nur anständig bleiben wollten, wieder andere, die Gewalt hassten und nicht mitmachen wollten, weil sie nicht mitmachen konnten. Wie Hilde Meisel in ihrem Gedicht schrieb:

“Life is sometimes so oppressive,
So unbearably hard,
One must be brave to live at all;
Far braver, than to hear the call
Of some great cause, To give
One’s life and be done with all.”

Liebe zur Idee, Liebe zum Mitmenschen, Liebe zum reinen Gewissen, auch Liebe zur Heimat, zum Haus, Liebe zur Treue und Liebe zu Gott.

Ich will jetzt nur einige der Vorarlberger Märtyrer erwähnen.

Hilde Meisel war eine jüdische Sozialistin, von Anfang an eine politische Gegnerin des Nazismus. Sie war Mitglied in Anti-Nazi-Organisationen. Ihre große Liebe galt dem zukünftigen, vereinigten, sozialistischen, gerechten und friedlichen Europa. Sie starb für diese Zukunft.

Ernst Volkmann, der den Eid an Hitler verweigerte, denn der Eid der Treue gilt nur für Gott. Seine Familie verließ ihn, die Nachbarn glaubten, dass er verrückt sei. Er opferte sein Leben auch für Liebe und Treue. Liebe und Treue für Gott und das missbrauchte Vaterland.

Josef Anton King war ein Sprachgenie, das sein Wissen und Können zunächst als guter Mensch zum friedlichen und freundschaftlichen Verkehr mit den Zwangsarbeiterinnen mobilisierte. Später, als Dolmetscher der Gestapo im Ostarbeiterlager, teilte er den Häftlingen Nachrichten der Auslandssender mit und nahm mit einer Widerstandbewegung Kontakt auf. Verhaftet, nach Mauthausen deportiert und hingerichtet. Seine Liebe galt den leidenden Mitmenschen, denen er zuerst persönlich half, dann auch im politischen Sinne Beistand leistete. Liebe zum Mitmenschen wurde Liebe zur Freiheit, Treue zum guten Gewissen.

August Weiss war seit seiner Kindheit ein Pazifist. Die Ablehung der Nazi-Ideologie war eine unmittelbare Folge seines Pazifismus. Er wollte nicht als Soldat kämpfen. Er wurde zusammen mit anderen Militarhäftlingen ins Straflager Aschendorfermoor eingeliefert, ein Lager, in dem wenige überlebten. Dort traf er einen Häftling, der ihm zum ersten Mal in seinem Leben von Demokratie, Presse- und Religionsfreiheit erzählte. Dann fing er an, wie er später sagte, positiv zu denken. Von da an litt er nicht nur wegen seines Hasses gegen Gewalt, sondern auch wegen seiner Liebe zur Freiheit, zur Demokratie, für die Zukunft.

Deserteure sind in normalen Zeiten verachtet. Aber wir sprechen jetzt nicht über normale Zeiten. Wehrmachtsdeserteure waren nicht feige, im Gegenteil, ihr Risiko war größer als jenes der kämpfenden Soldaten. Sie wollten einfach nicht weitermachen. Man sagte ihnen, dass es nicht die Aufgabe der Soldaten sei zu entscheiden, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht ist. Und doch haben sie einen Entschluss gefasst. Ihre Liebe galt der Wahl, der Freiheit der Wahl. Zwei von ihnen, Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, haben ihr Leben für diese Wahl geopfert.

Wie August Weiss schrieb: „Es gibt überall gute Menschen.“ Es gab auch gute Menschen in Vorarlberg. Wir kennen ihren Namen nicht. Viele österreichische Juden (wie auch meine Tante) flüchteten durch Vorarlberg in die Schweiz, wie es auch viele politische Flüchtlinge taten. Jemand hat ihnen geholfen, jemand guckte in die andere Richtung, wie es auch einige Grenzpolizisten taten.

Wie es auch böse Menschen gibt, wie die Leute, die zwei Wehrmachtsdeserteure angezeigt haben. Die meisten Leute sind weder böse noch gut, sondern feige, schwach und gehorsam, die meisten Leute glauben immer, was man von ihnen erwartet.

Nur die Ausnahme der Guten verdient die Ehre der Erinnerung, weil diese Ausnahme als Beispiel dient.

Dieses Mahnmal/Denkmal steht für die Ehre der Erinnerung. Es ziemt sich, die Schulden zu bezahlen. Dieses Mahnmal/Denkmal seht auch als Symbol für die Bezahlung einer alten Schuld.

Wir leben in glücklicheren Zeiten, in Zeiten, in denen man für bloße Ehrlichkeit nicht mit dem Leben bezahlen muss. Doch die Bereitschaft dazu kann man auch heute lernen. Ein Mahnmal mahnt uns: Vielleicht, wer weiß, werden wir es noch brauchen.

Ágnes Heller