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Ingrid Bertel · 05. Nov 2014 ·

„Bis dann übe auch ich Sabotage!“ - Ein „Volksbuch“ soll den Dornbirner Maler Edmund Kalb stärker ins öffentliche Bewusstsein zurückholen

Im September 2013 schrieb Ulrich Gabriel einen offenen Brief an das Land und die Stadt Dornbirn. Anlass war der Verkauf des Hauses, in dem der Künstler Edmund Kalb bis zu seinem Tod 1952 gelebt hat. Gabriel forderte Stadt und Land auf, das „Haus Kalb“ gemeinsam zu erhalten und ein Nutzungskonzept zu erarbeiten. Er fand einen Verbündeten in Rudolf Sagmeister, der Leben und Werk Kalbs in den 1990er-Jahren erforscht hatte. Sagmeister schlug vor, das denkmalgeschützte Gebäude der Öffentlichkeit in Form eines Museums zugänglich zu machen. Und er wurde aktiv: Im Februar 2014 stellte Sagmeister den „Kunst- und Kulturverein Edmund Kalb“ vor, dessen bislang 137 Mitglieder aus dem Haus eine Begegnungsstätte für Künstler machen wollen.

Edmund Kalb stärker ins öffentliche Bewusstsein zurückholen will auch das von Ulrich Gabriel redigierte Buch „Edmund Kalb. Leben und Werk“. Es folgt dem Originaltext des großen Kalb-Katalogs, den Rudolf Sagmeister gemeinsam mit seiner Frau Kathleen Sagmeister-Fox 1994 vorlegte und der leider vergriffen ist. Gabriels „Volksbuch“ kürzt den Text und versieht ihn mit (nicht immer geglückten) Zwischentiteln und zahlreichen Illustrationen.

Das Alphabet der Zeichenkunst


Wer bei „Volksbuch“ allerdings an einen Volkshelden denkt, liegt falsch. Edmund Kalb war weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tod populär. Ganz im Gegenteil. In der klaustrophobischen Enge einer bigotten Kleinbürgerfamilie zum verschüchterten Sonderling erzogen, gelang es ihm erst im Alter von 26 Jahren, sich der Umklammerung durch die Mutter und der Ausbeutung durch den Vater zu entziehen. Dank eines Stipendiums entkam er an die Münchner Akademie der Bildenden Künste. In wenigen Jahren schuf er hier ein verstörendes, faszinierendes Werk, eine Serie von annähernd 1000 Selbstbildnissen. Dabei konzentriert er sich auf „die Ausdrucksträger des Gesichts, auf Auge, Nase und Mund, ohne die Konturen des Gesichts wiederzugeben. Haaransatz, Hals und Backenlinien werden nur andeutungsweise definiert“, schreibt Sagmeister und stellt fest: „Kalb führt das Alphabet der Zeichenkunst vor und entwickelt seine Mittel zur Meisterschaft. Mit absoluter Prägnanz und Sicherheit entsteht aus der abstrakten Linie – in Analogie zur Schrift – Bedeutung.“

Rund 600 Selbstbildnisse sind nachgewiesen. Kalb hatte sie penibel genau geordnet. Von den Originalen trennte er sich nicht. Er sandte Fotos der Bilder an Künstler, mit denen er sich gedanklich austauschte – Kollegen aus Japan oder Uruguay. In Vorarlberg aber scheint Kalb keine Gesprächspartner gefunden zu haben und trat auch keiner Künstlervereinigung bei. Ganz allein suchte er seinen künstlerischen Weg, und der lag in der Sprache der Linie, im Verzicht auf Farbe, in der Technik der Radierung und der Kaltnadel – und in der Konzentration auf geistige Anstrengung. „Bei all seinen Selbstbildnissen fällt das nahezu vollständige Fehlen jeglicher Affektbewegung auf, vielmehr drücken sie angestrengtes Denken, den Willen zur Selbsterkenntnis, zur Weltdeutung aus.“

„…meiner Begabung ein Ende setzen“


Im April 1930 richtet Edmund Kalb ein Hilfsgesuch an die Stadt Dornbirn. Ohne finanzielle Unterstützung müsse er sein Studium abbrechen. Mit erschütternder Naivität fragt er die Stadtverwaltung „soll… ich selbst nun meiner Begabung ein Ende setzen“? Die Antwort ist von brutaler Klarheit: Kalb erhält das Angebot, Verkehrstafeln anzustreichen. Er wird nie etwas anderes erleben als Unverständnis, ja Ablehnung seiner schöpferischen Arbeit. Die Räume in seinem Elternhaus, die er als Atelier und Wohnung nutzen will, werden zwangsvermietet. Unabhängigkeit von den Eltern wird so unmöglich. Nur in den Sommermonaten kann sich Kalb ins Wochenendhaus der Familie im Ebnit zurückziehen. Hier entstehen Portraits von Kindern, die ihre Sommerfrische im Dorf verbringen, Studien von intensiver psychologischer Klarheit. Und wenn Kalb Frauen zeichnete, dann waren sie nachdenklich, bemerkt Sagmeister. „Es ging ihm also nicht in erster Linie um die Darstellung weiblicher Schönheit, sondern wiederum um das Sichtbarmachen der 'Bemeisterung des Schicksals durch die Kraft des Denkens.'“

Der Emanzipierte


Kalb war ein selbständiger Mann, der einen Haushalt führen konnte, und zwar inklusive Kochen und Flicken. In seinen Beziehungen zu Frauen kam es ihm auf Augenhöhe an, auf gegenseitigen Respekt. In den Tagebüchern aus den letzten beiden Lebensjahren finden sich dazu Beispiele, die einen direkt ins Herz treffen. So möchte Kalb etwa eine Taschenlampe reparieren lassen. Als ihm in einem Dornbirner Geschäft patzig beschieden wird, er solle eben heiraten, dann würden seine Taschenlampen nicht kaputt gehen, antwortet Kalb – und seine Wut bebt noch in der Tagebuchnotiz nach: „Wenn die Frauen meiner Kunst einmal mehr Interesse entgegenbringen, heirate ich! Bis dann übe auch ich Sabotage!“

Seine „tiefe Einsamkeit und geistige Not“ bekämpfte Kalb mit theoretischen Überlegungen zu Kunst und Wissenschaft. Besonders interessierte er sich für Astronomie und Physik. In den seltenen Portraits nach 1938 wird der Kopf zum Empfangsgerät für Energie. Mathematische Symbole kreisen um ihn, Strahlen, Wellen. Alles Materielle löst sich auf.

„Einen Abschluss seines zeichnerischen Werks bildeten 1937 und 1938 abstrakte Kompositionen. Auf diesen Blättern ließ er seiner Hand mit dem Graphitstift freien Lauf. Es entstanden wirbelnde, sich überlagernde Kreis- und Schleifenformen, die alle um ein Zentrum kreisen. Der Stift wurde von ihm mit solcher Vehemenz geführt, dass das Papier an vielen Stellen einriss; eine Möglichkeit, Gefühlen und Gedanken unmittelbar Ausdruck zu geben, die später in den 40er und 50er-Jahren von der 'Gestischen Malerei' und vom 'Abstrakten Expressionismus' weiterentwickelt wurde.“

Der Wappenmaler


Es gab keine einzige Ausstellung dieser Werke, keinen Käufer. Wenn Kalb als Maler Geld verdiente, dann mit Wappen und Stammbäumen, die er als Auftragsarbeiten erledigte. Und die Kunden zahlten gut. Für ausgeführte Wappentafeln erhielt er bis zu 1200 Schilling (ein Schichtarbeiter in der Dornbirner Textilindustrie verdiente ca 360 Schilling im Monat). „Diese handwerkliche Arbeit, bei der die aufgewendete Mühe und die abgeleisteten Arbeitsstunden am Produkt ablesbar waren, wurde als Kunst akzeptiert, während Kalbs Zeichnungen nur Unverständnis, Ablehnung und Spott ernteten.“

Schwierigkeiten mit den Behörden hatte Kalb seit seiner nicht eben freiwilligen Rückkehr nach Dornbirn. Während der NS-Zeit wurde sein Widerstand gegen Autoritäten ziemlich lebensgefährlich. Und das blieb er auch nach 1945. „Einmal in die Mühlen des Gesetzes geraten, potenzierten sich die einzelnen Vorfälle zu immer längeren Haftstrafen, zur Zwangsexekution aller Einnahmen, und letztendlich wollte ihn die Behörde gar entmündigen.“

Den Ort seiner Demütigungen – das Dornbirner Bezirksgericht – hatte Kalb in seinem Wohnhaus ständig vor Augen. Jetzt könnte dieses Haus, in dem laut Rudolf Sagmeister das 20. Jahrhundert wie in einer Kapsel eingeschlossen studiert werden kann, ein Ort der Offenheit, des Forschens und der freien künstlerischen Entfaltung werden. Und das wäre eine wirklich schöne Geste.

 

Ulrich Gabriel (Hg.), „Edmund Kalb. Leben und Werk 1900 – 1952“, 216 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-901325-92-2, unartproduktion 2014